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Placebos wirken besser, wenn man dreiviertel dran glaubt

Montag, 16. August 2010 0:18

In einem interessanten Gespräch mit meiner Schwester über die Frage, ob Ärzten erlaubt werden sollte, Placebos zu verschreiben, habe ich mich an einen Artikel aus dem Wissen-Teil der Süddeutschen erinnert. Es wird von einer Studie berichtet (im Original übrigens hier in den Archives of General Psychiatry), in der Parkinson-Patienten mit vorgeblich unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit ein aktives Medikament oder ein Placebo gegeben wurde. (Ich finde es nebenbei ziemlich erstaunlich, dass die zuständige Ethikkommission das durchgewunken hat — alle Patienten haben das Placebo erhalten, von informierter Zustimmung kann keine Rede sein).

Das erstaunliche Ergebnis ist jedenfalls, dass Patienten, die glaubten, mit 75% Wahrscheinlichkeit das aktive Medikament zu erhalten, sich deutlich (und auch was die bei Parkinson recht gut bekannten neurochemischen Veränderungen angeht) von den anderen Gruppen abhoben, insbesondere auch von der Gruppe, die davon ausgingen, dass sie mit Sicherheit das aktive Medikament erhalten würden.

Bezüglich des Verschreibens von Placebos wäre das ein klares Argument dafür — es würde allen Verschreibungen vom Arzt eine zusätzliche „rein psychische“ Wirkung geben, wenn wir uns nicht mehr ganz sicher wären, dass das Medikament „echt“ ist!

Dennoch bin ich insgesamt eher gegen eine derartige Psychologisierung des Allgemeinarztes. Ich finde, es entspricht nicht einem modernen Verständnis von psychologischen Interventionen, wenn derart mit Täuschung gearbeitet wird. Im Gegensatz dazu ziehe ich aus meiner Prüfungslektüre zu systemischer Therapie und Beratung die Vermutung, dass sich ein ähnlicher Effekt auch mit einer sehr kurzen Psychotherapie erreichen ließe. Ich denke, dass ein großer Teil dieses Placeboeffekts bei ungewisser, aber hoffnungsvoller Erwartung durch eine veränderte Aufmerksamkeit zustande kommt, die sich mehr auf die Beobachtung dessen richtet, was sich vielleicht verbessert oder verändert hat. Und das gehört zum Standardinventar systemischer Techniken, mit denen Probleme „verflüssigt“ werden. Übrigens gibt es in dieser Therapierichtung auch schon viel Erfahrung gerade mit chronischen Krankheiten mit starker biologischer Mitverursachung (z.B. Asthma oder Diabetes bei Kindern).

Und im Gegensatz zur wunderheilerartigen Placebointervention wird dabei gleichzeitig die Selbstbestimmung und Autonomie der Patienten/Klienten gestärkt, und ihr Vertrauen in ihre eigenen Problemlösefertigkeiten. Und — ich möchte eine potenzielle Einschränkung meiner Neutralität in dieser Frage nicht verschweigen — mir geht nicht so schnell die Arbeit aus…

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Wozu ist unser Gedächtnis da?

Samstag, 7. August 2010 15:45

Im Kontext einer Gerichtsverhandlung mit widersprüchlichen Zeugenaussagen berichtet die Süddeutsche im Wissens-Ressort vom Stand der psychologischen Forschung zum Gedächtnis. Das Fazit ist recht einfach:

Das Gedächtnis ist primär kein Archiv des vergangenen Lebens, sondern ein willfähriges Instrument zur Bewältigung der Gegenwart.

Verschiedene interessante Experimente, die auch im Artikel berichtet werden, zeigen, dass spätere Ereignisse sich mit den früheren Erinnerungen vermischen, genau wie Mediendarstellungen, damalige und heutige Motive, individuelle und kollektive Sinnstrukturen, und vieles andere mehr.

Was das ganze für Gerichtsprozesse bedeutet, wo Zeugenaussagen ja einen zentralen Stellenwert haben, ist eine wichtige und schwierige Frage. Für den Alltag meine ich, dass man es durchaus als Einladung verstehen kann, wie von Konstruktivisten verschiedentlich vorgeschlagen, unsere Alltagserzählungen mit anderen als dem Wahrheitskriterium zu bewerten. Und für die Wissenschaft? Dass wir uns überlegen müssen, ob wir es für möglich und wünschenswert halten, unsere biologischen Wahrnehmungs– und Erinnerungssysteme, die offensichtlich nicht auf eine objektive Abbildung der Wirklichkeit ausgelegt sind, durch technische Systeme zu ersetzen, die das zu leisten versuchen.

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Merkel und Deutschland in der Postmoderne

Sonntag, 2. Mai 2010 12:20

Die ZEIT hat einen sehr schönen Artikel zu Merkels zehnjährigem CDU-Vorsitz veröffentlicht, schon vor einer Weile, aber man kommt ja zu nichts heutzutage :)

Und wie schon öfter bin ich auch diesmal ein wenig überrascht von dem positiven Bild, das von der Kanzlerin gezeichnet wird. Obwohl (und vielleicht gerade weil) man nicht so viel von ihr sieht im politischen Alltag kann man sich gut erzählen lassen, wie viel Gedanken und Kommunikation hinter ihrer Arbeit stecken. Zusammen mit einer schönen Schilderung der gewachsenen Komplexität und demokratischen Durchdringung unserer Gesellschaft gibt das einen nachvollziehbaren Argumentationsfaden, warum Merkel eigentlich die perfekte Kanzlerin für diese Zeit ist (zu dem eigentlich später mehr):

[…]

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Tiefe Denker, ganz unmelancholisch

Samstag, 20. März 2010 21:51

Ein NYTimes „Well“ Artikel berichtet von einer spannenden kleinen Studie zum Thema Gesprächstiefe und Glück. Mehr als die noch sehr spekulativen Ergebnisse gefällt mir die Untersuchungsmethode:

[…]

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Die Ohnmacht der Fakten

Freitag, 13. November 2009 4:49

Über Greg Mankiw lese ich eine spannende Diskussion des Klimawandels von ökonomischer Seite. Und gleichzeitig ein Lehrstück in Konstruktivismus: Yoram Baumann in einem E-Mail-Austausch mit dem „Superfreakonomen“ Steven Levitt. Wie problematisch eine aus lauter „richtigen Fakten“ zusammengesetzte Darstellung sein kann!

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Gefühle im Netz — der nächste Schritt der Suchmaschinen

Montag, 24. August 2009 22:17

Ein NYTimes-Technology Artikel beschäftigt sich mit dem nächsten anstehenden Durchbruch in der Internet-Suchtechnik: „Sentiment Analysis“, dem Versuch, im Internet ausgedrückte Gefühle statistisch verwertbar zu machen. Die Anwendung ist natürlich zunächst für Unternehmen interessant (und auch ein wenig erschreckend), am Ende aber ein weiterer Schritt für den Konstruktivismus. Die zentralen Punkte: […]

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Konstruktivismus der Gefühle — eine Liebesgeschichte in zwei Teilen

Donnerstag, 6. August 2009 23:05

Wenn der Titel Hoffnung auf eine persönliche Enthüllung meinerseits geweckt hat muss ich leider enttäuschen. Aber was folgen soll ist kaum weniger spannend — ein Artikel aus der NYTimes-Rubrik „Modern Love“ mit dem Titel „Those Aren’t Fighting Words, Dear“. Die Geschichte ist ziemlich verrückt: Ein Mann verkündet seiner Frau in der Mitte einer ansonsten scheinbar schön funktionierenden Ehe, dass er sie nicht mehr liebe, und ausziehen will. Und sie entschließt sich, ihm einfach nicht zu glauben. Mit Erfolg. Hier sind ein paar schöne Ausschnitte (wobei ich definitiv rate, den Link oben zu klicken und die ganze Geschichte zu lesen, ist nicht sehr lang):

[…]

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Wikipedia-Soziologie

Montag, 8. Juni 2009 15:18

Vor einer Weile habe ich hier schon Gedanken zu den Zukunftsaussichten verschiedener Enzyklopädie-Modelle veröffentlicht, und bin dabei auch kurz auf die Faszination der Auseinandersetzungen zwischen aktiven Benutzern und Gruppen auf Wikipedia eingegangen. Anlässlich eines eskalierten Streits über Artikel rund um Scientology berichtet die NYTimes und liefert damit noch ein paar interessante Facetten zu meinem älteren Artikel:

[…]

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Enzyklopädie gestern, heute und morgen

Freitag, 22. Mai 2009 15:50

Ein NYTimes-Artikel über das Ende (und Scheitern) von Microsofts’s Encarta enthält einige interessante Ausführungen über die Legitimierung von „Wissen“ in unserer Gesellschaft. Hier zuerst ein zentrales Zitat, dann einige Gedanken von mir:

[…]

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Zwischen Biologie und Kultur

Sonntag, 10. Mai 2009 14:09

Ich habe mich in Gespräche mit anderen Psychologiestudenten schon öfter seltsam gefühlt, weil ich gegen das Neuropsycho-Fieber komplett immun zu sein scheine, das in unserer Disziplin ansonsten gerade grassiert. Ich finde neurobiologische Erkenntnisse grundsätzlich sehr interessant, aus einer philosopisch-grundlagenwissenschaftlichen Perspektive. Es geht ihnen meiner Meinung nach aber die praktische Relevanz großteils ab. Wobei diese Aussage an die ganz grundsätzliche Frage nach der relativen Bedeutung biologischer und kultureller Faktoren für unsere Existenz und unsere Eigenschaften rührt. In meiner Prüfungsliteratur für Kulturpsychologie fand ich dazu eine sehr schöne Ausführung, die aber natürlich nicht als neutrale Einschätzung zu lesen ist:

[…]

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