Nassehi über Inhalt und Form von Sarrazins Äußerungen

Ich bin leider mittlerweile so weit vom Münchner Geschehen entfernt, dass es eines Artikels in der NYTimes bedarf, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass sich schon vor einiger Zeit der von mir geschätzte Soziologe Armin Nassehi in der FAZ zu Sarrazin geäußert hat.

Allerdings liest sich dieses immer noch sehr gut als Nachwort und Legitimation von Sigmar Gabriels Stellungnahme, die ich schon vor einer Weile hier lobend erwähnt habe.

Der Tonfall ist insgesamt ruhiger als bei Gabriel, und er bezieht sich mehr auf die gesamte Breite von Sarrazins Thesen, auch diejenigen, die als legitimer Beitrag zu einer wichtigen Diskussion verstanden werden können. Sehr gut gefällt mir die Balance zwischen inhaltlicher und, wenn man so möchte, meta-textlicher Kritik, die Nassehi trifft. Sie wird schon im Eingangsabsatz deutlich:

Die Debatte um Thilo Sarrazins Thesen hat sich verändert. Die erste Aufregung über den Ton und die biologistischen Begründungsmuster ist verebbt. Jetzt werden seine Thesen auf jene sozialpolitischen Teile reduziert, über die schon länger debattiert wird. Dennoch ist es ein Fehler, an den biologistischen Argumenten vorbeizulesen. Denn in ihnen wird deutlich, dass Sarrazin nicht an Lösungen interessiert ist, sondern lediglich Ressentiments bedient. Und es sind vor allem die Ressentiments, für die er Beifall bekommt, weniger für die Argumente.

Es folgen eine kurze historische Einordnung, ein guter Überblick über den Stand der Nature-Nurture-Debatte und eine Ergänzung und Erweiterung von Sarrazins Wahrnehmung von Migranten. Besonders wertvoll finde ich seine abschließenden Thesen zur politisch-praktischen Frage von Holschuld und Bringschuld:

Gegen diese Argumentation würde Sarrazin die Bringschuld der Institutionen gegen die Holschuld der Betroffenen ausspielen. Wer so argumentiert, ist offensichtlich in seinem Habitus ebenso gefangen wie der anatolische Einwanderer in seinem segregierten Milieu. Sarrazin macht es sich sehr einfach, von den Bildungsverlierern jene Disposition zu verlangen, die erst hergestellt werden muss. Sarrazins Argumentation setzt voraus, was sie erzeugen will.

So ermutigend es ist, dass im emotional erregten Deutschland noch mit solcher Klarheit gedacht und geschrieben wird, so besorgniserregend sind Berichte der SZ über die Stimmung bei einer öffentlichen Diskussion mit Sarrazin und Nassehi des Münchner Literaturhauses:

Ich bin wirklich erschrocken gewesen“, sagt Nassehi am Tag danach. Nassehi ist ein geübter Diskutant und Vortragsredner, aber so etwas, bekennt er, „habe ich noch nicht erlebt“.

Dabei haben sowohl Steingart als auch Nassehi Einwände gegen Sarrazins Buch vorgebracht, über die zu diskutieren gelohnt hätte. Steingart hielt Sarrazin neben den verquasten Passagen zum Thema Intelligenz vor allem den feindseligen Ton vor, in dem er schreibe. „So redet man nicht mit Menschen“, sagte Steingart. Er jedenfalls habe sich nach der Lektüre den Kopftuchmädchen näher gefühlt als je zuvor. Für dieses Bekenntnis erntete der Journalist heftige Buh-Rufe.

Nassehi ging es noch schlimmer, als er auszuführen versuchte, warum Sarrazins These von der biologischen Vererbung von Intelligenz Unsinn sei, weil sich bestimmte Merkmale und Verhaltensweisen sozial vererben würden. „Aufhören“- und „Oberlehrer“-Rufe schallten dem Professor entgegen und als Nassehi dann Thilo Sarrazin einen „Kleinbürger“ nannte, der mit einer ungeordneten Welt nicht klar komme, verlor das Publikum endgültig seine Contenance.

Nassehi selbst hat immerhin eine Erklärung für dieses Phänomen, aber eine Lösungsperspektive bleibt er schuldig:

Die Frage ist, warum die Naturalisierung des Anderen, Fremden so attraktiv erscheint. Es ist offensichtlich der Versuch, einer verunsicherten Mittelschicht einfache Erklärungen anzubieten. Eine Welt, in der alles auch anders sein könnte, in der Perspektivendifferenzen und Pluralität unvermeidliche Erfahrungen sind, suggeriert die Natur Eindeutigkeit und Gewissheit.

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Datum: Sonntag, 31. Oktober 2010 0:21
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2 Kommentare

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    […] Distinktionskämpfe haben trotz aller medialstruktureller Wellenförmigkeit seit den prominenten Thesen aus dem Jahre 2010 gewissermaßen Hochkonjunktur. Man grenzt aus, kategorisiert und unterscheidet […]

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