Enzyklopädie gestern, heute und morgen

Ein NYTimes-Artikel über das Ende (und Scheitern) von Microsofts’s Encarta enthält einige interessante Ausführungen über die Legitimierung von „Wissen“ in unserer Gesellschaft. Hier zuerst ein zentrales Zitat, dann einige Gedanken von mir:

Encarta could not compete, however, against the Web and Google. The Google search engine is an automated, continuously updated, always-expanding guide to information that is completely free. Authority now comes not from a small group of encyclopedia editors and famous contributors but from Google’s algorithms, which analyze links that point to Web pages elsewhere and other clues to make an educated guess about trustworthiness.

Google has effectively enlisted millions of Web page authors, whose links serve as recommendations for the largest editorial board ever assembled. Many Google search results lead off with a pointer to Wikipedia. The crowd-curated Web may have been what Microsoft had in mind when it vaguely explained Encarta’s closing this way: “People today seek and consume information in considerably different ways than in years past.”

Zunächst ist es spannend, dass „das Web“ an sich und Google als Konkurrenten der klassischen Enzyklopädie dargestellt werden und nicht, wie ich als erstes denken würde, Wikipedia.

In der Tat kann man da vielleicht insgesamt drei Ansätze zur Legitimation von „Wissen“ herausdestillieren. Und darüber, so meine ich, nicht schreiben ohne Wissen in Anführungszeichen zu setzen und sich auf konstruktivistische Pfade zu begeben, aber dazu in späteren Beiträgen mehr.

Der erste ist der klassische Ansatz, in dem eine ausgewählte Expertengruppe, in ihren jeweiligen Wissensbereichen etabliert (im Sinne der wissenschaftlichen Gemeinschaft) und informiert, in einem relativ esoterischen Prozess entscheidet, was als wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Konsens aufgefasst werden kann und damit in einer Enzyklopädie erscheinen darf. Dabei geht es letztlich um Relevanz und Richtigkeit, und es spielt keine Rolle ob das Medium 24 Bände Brockhaus oder eine CD-ROM von Microsoft ist.

Der zweite Weg ist der Wikipedia-Ansatz, der versucht eine relativ direkte Demokratie für editorische Entscheidungen einzuführen. Bei genauem Hinsehen ist das deutlich komplizierter ist als man erwarten würde. Es gibt Regeln und eine Art Konsens-Demokratie. Und es gibt Abstimmungen, für die gerade ein interessantes Beispiel auf der Startseite aufgetaucht ist. zum Thema Lizenzrecht.

Der dritte Weg ist nun der „google-Weg“, bei dem das Gewand einer Enzyklopädie komplett abgelegt ist und die enge Verbindung zwischen Wahrheit und Relevanz besonders deutlich wird, auf die ich im Rahmen meiner Geplanten Konstruktivismus-Reihe noch näher eingehen möchte. Der google-Weg ist eine Kombination von demokratischen und technokratischen Elementen — jeder kann eine Internetseite erstellen und ist damit an googles Berechnungen beteiligt, aber nur Google bestimmt, wie diese Berechnungen aussehen, und hält sogar den genauen Modus geheim.

Dass dabei durchaus auf einen demokratischen Prozess angespielt wird zeigt dieser Ausschnitt aus einer Tech-Info-Seite:

PageRank Technology: PageRank reflects our view of the importance of web pages by considering more than 500 million variables and 2 billion terms. Pages that we believe are important pages receive a higher PageRank and are more likely to appear at the top of the search results.

PageRank also considers the importance of each page that casts a vote, as votes from some pages are considered to have greater value, thus giving the linked page greater value. We have always taken a pragmatic approach to help improve search quality and create useful products, and our technology uses the collective intelligence of the web to determine a page’s importance.

Auch wenn noch keiner dieser Ansätze endgültig ausgeschieden ist — es zeichnet sich ein Ende der klassischen Enzyklopädie ab. In der Welt der wissenschaftlichen „Journals“ hält sich noch relativ beharrlich das Prinzip des ausgelesenen Kreises, der Urteile fällt. Aber auch dort rührt sich Aufruhr.

Im Grunde ist es also ein Rennen zwischen dem „Community“-Ansatz von Wikipedia und dem „Technology“-Ansatz von Google, und ich bin sehr gespannt wie dieses Rennen ausgeht. Etwas in mir revoltiert gegen die versteckte Herrschaftsausübung, die von googles technischem Monopol ausgeht. Anderersteits gibt es auch eine versteckte quasi-demokratische Legitimation: Durch uns alle, die wir google weiter benutzen.

Gleichzeitig ist das demokratische Modell von Wikipedia ziemlich komplex, mir scheint dort eine Art Parallelwelt entstanden zu sein, der darin enstehende Unmut wird an verschiedenen Stellen satirisch aufgearbeitet: Wie man Admin wird, das Recht des Älteren oder Revert-Wars. Sehr spannend auch das Verhältnis zum Expertentum, überhaupt könnte ich mich in den Dokumenten dieser Welt richtig verlieren.

Hier noch ein ernsthafter Text zu den Problemen in Wikipedia, einer zum Problem der Google-Bombe, ein Schmankerl: Wikipedia-Philosophien, und eine Hausaufgabe: Den Text zum Neutralen Standpunkt in Wikipedia aus konstruktivistischer Perspektive lesen.

Autor:
Datum: Freitag, 22. Mai 2009 15:50
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