Merkel und Deutschland in der Postmoderne
Die ZEIT hat einen sehr schönen Artikel zu Merkels zehnjährigem CDU-Vorsitz veröffentlicht, schon vor einer Weile, aber man kommt ja zu nichts heutzutage
Und wie schon öfter bin ich auch diesmal ein wenig überrascht von dem positiven Bild, das von der Kanzlerin gezeichnet wird. Obwohl (und vielleicht gerade weil) man nicht so viel von ihr sieht im politischen Alltag kann man sich gut erzählen lassen, wie viel Gedanken und Kommunikation hinter ihrer Arbeit stecken. Zusammen mit einer schönen Schilderung der gewachsenen Komplexität und demokratischen Durchdringung unserer Gesellschaft gibt das einen nachvollziehbaren Argumentationsfaden, warum Merkel eigentlich die perfekte Kanzlerin für diese Zeit ist (zu dem eigentlich später mehr):
Verlassen wir für einen Moment den Tisch mit der Kanzlerin und den silbernen Thermoskannen, wenden wir uns den Orten zu, an denen die eigentliche Veränderung der letzten zehn Jahre ablief – den Küchen-, Kneipen– und Bistrotischen der Republik. Dort ist eine umfassende Kultur des Mitredens entstanden. Heute erwarten schon die Neunjährigen, dass ihr Wort gehört wird, sie gehen sogar ganz selbstverständlich davon aus, dass dieses Wort Gewicht hat. Dasselbe gilt – schon länger – für die Frauen, immer mehr auch für die Migranten. Nie zuvor konnten und wollten sich so viele Menschen ins Leben einmischen, nie zuvor konnten sie sich so leicht informieren. Wir leben, so gesehen, in einer durchdemokratisierten Gesellschaft.
Das wird in Deutschland noch verstärkt durch ein politisches System, das von Anfang an auf Mitsprache angelegt war. Zentralismus, schnelle einsame Entscheidungen sind hier kaum möglich. In den letzten Jahren kam immer noch mehr Teilhabe dazu: Plebiszite, Panaschieren, Kumulieren, nicht zuletzt die Selbstpolitisierung des Bundesverfassungsgerichts. Ein solches System multipolar zu nennen ist fast noch untertrieben. Wie aber regiert man in einer solchen Gesellschaft?
Dass sie sich nicht überhöht, dass sie zuhören kann, dass sie fleißig ist und von eiserner Geduld, dass sie keine Feinde kennt und daher auch kaum Polemik – all das macht Merkel zunächst mal zu einer passenden Kanzlerin für dieses Land. Ohne Scheu vor Chaosphasen lässt sie die Schwarmintelligenz wirken, die Diskurse laufen, beherrscht und fast herrschaftsfrei. Das Chaos, hofft sie, werde eine Ordnung gebären, die mehr leistet als alles, was den einzelnen Akteuren vorgeschwebt haben mag. Und die Bürger sollen sich an der Wirklichkeit abarbeiten, nicht an ihr.
Dazu passt auch, wie sie selbst zitiert wird:
Es gibt eine zwiespältige Sehnsucht. Einerseits die Sehnsucht nach Klarheit und überschaubaren Diskussionen, die in endlicher Zeit zu einem klar erkennbaren Ende geführt werden, und auf der anderen Seite die Sehnsucht nach Freiheit der Debatte und einer großen Vielfalt der Meinungsäußerung. Von der Bundeskanzlerin und Parteivorsitzenden der CDU zu erwarten, dass sie zu allen Themen stets eine Vorgabe für eine schnelle Diskussion macht, wäre falsch. Wenn ich bei zehn Themen von Beginn an die Lösung vorgeben würde, hätte ich weder unsere demokratische Ordnung noch das Wesen der CDU verstanden. Es gäbe trotzdem ein abweichendes und völlig berechtigtes Interesse zum Beispiel der Ministerpräsidenten, ihre eigenen Vorstellungen deutlich zu machen. Das alles bedeutet nicht, dass ich nicht genau wüsste, was mir wichtig ist und was wir schaffen müssen
Und so ist das Fazit doch in kritischen Tönen.
Man könnte es das Merkelsche Demokratie-Paradox nennen: Sie ist die passende Kanzlerin für ein durchdemokratisiertes Land, in dem zugleich die Politik demokratische Legitimation ständig einbüßt.
Die öffentliche Debatte wird hysterischer und diffuser, und die Kanzlerin trägt wenig dazu bei, das zu ändern. Die politische Klugheit der Leute, die demokratische Schwarmintelligenz können sich jedoch nur dann positiv auswirken, wenn die Bürger wissen, was eigentlich die Frage ist, die im Raum steht. Zurzeit wissen sie das nicht. Zurzeit arbeiten sie sich weder an der Kanzlerin ab noch an der Wirklichkeit, sie reiben sich wund an der Luft
Und der Leser bleibt mit der Frage zurück, wie denn dann eine gute Regierung, eine gute Kanzlerin zur Zeit aussehen würde. Wie wäre der Spagat zwischen Offenheit und Orientierung möglich?
Vielleicht doch eher zurück aus den Natur– in die Sozialwissenschaften und damit verbundenen Erkenntnistheorien. Weg von Merkels (manchmal endlos anmutender) Suche nach dem rational Richtigen, hin zu der Erkenntnis, dass es das das so nicht gibt. Und dass es statt dessen darum geht, in einem vorhandenen Freiraum bestimmte Setzungen vorzunehmen, und im Dialog zu legitimieren?