Wozu ist unser Gedächtnis da?
Im Kontext einer Gerichtsverhandlung mit widersprüchlichen Zeugenaussagen berichtet die Süddeutsche im Wissens-Ressort vom Stand der psychologischen Forschung zum Gedächtnis. Das Fazit ist recht einfach:
Das Gedächtnis ist primär kein Archiv des vergangenen Lebens, sondern ein willfähriges Instrument zur Bewältigung der Gegenwart.
Verschiedene interessante Experimente, die auch im Artikel berichtet werden, zeigen, dass spätere Ereignisse sich mit den früheren Erinnerungen vermischen, genau wie Mediendarstellungen, damalige und heutige Motive, individuelle und kollektive Sinnstrukturen, und vieles andere mehr.
Was das ganze für Gerichtsprozesse bedeutet, wo Zeugenaussagen ja einen zentralen Stellenwert haben, ist eine wichtige und schwierige Frage. Für den Alltag meine ich, dass man es durchaus als Einladung verstehen kann, wie von Konstruktivisten verschiedentlich vorgeschlagen, unsere Alltagserzählungen mit anderen als dem Wahrheitskriterium zu bewerten. Und für die Wissenschaft? Dass wir uns überlegen müssen, ob wir es für möglich und wünschenswert halten, unsere biologischen Wahrnehmungs– und Erinnerungssysteme, die offensichtlich nicht auf eine objektive Abbildung der Wirklichkeit ausgelegt sind, durch technische Systeme zu ersetzen, die das zu leisten versuchen.