Tanzania 9 — Reflexionen zu Leben, Liebe, Entwicklung

Mit Freude und einer gewissen Wehmut bediene ich mich wieder mal meiner Muttersprache, um etwas Ordnung in den Strom der Gedanken und Gefühle der letzten Monate zu bringen. Und Tansania war und ist sicherlich der bis jetzt anregendste Teil der Reise, für so ziemlich alle zentralen Themen der menschlichen Existenz gibt es Material zur Betrachtung und Problematisierung. Und das klingt schon danach, was es ist — in weiten Teilen ein eher betrübliches Bild, das mich mindestens in Bezug auf Afrika recht pessimistisch stimmt. Ich kann die Afrikaromantik, die in Europa glaube ich recht verbreitet ist, nicht nachvollziehen. Das heißt nicht, dass es hier keine fröhlichen Menschen gibt — aber ich denke, wer den Eindruck bekommt, dass die Menschen hier fröhlicher sind als daheim, hat den falschen Freundeskreis. Oder hat nur die Euphorie und Neugier eines kurzen Besuchs mitbekommen, es ist erstaunlich, wie viel Freude ein „mzungu“ (Weiße/r) hier auslöst, obwohl schon einige unterwegs sind. Es heißt auch sicherlich nicht, dass wir von den Kulturen hier nichts lernen können, ganz und gar nicht. Aber es sagt schon was, wenn die Mehrheit der jungen Leute, mit denen ich spreche, gerne hier weg möchte — und zwar für immer.

Bezüglich der Entwicklungshilfe sehe ich immer düsterer. Ein Afrika-Reisebuch, über das ich bald noch ein bisschen schreiben werde (Dark Star Safari von Paul Theraux) hat da auch interessante Anregungen. Es scheint mir ziemlich klar, dass die großen Projekte, die mit wenig lokaler Beteiligung und viel Technik (und damit letztlich Arbeit) aus dem Geberland durchgeführt werden, nicht funktionieren. Und ich befürchte zunehmend, dass selbst kleine Projekte wie die von Action 5, die ausschließlich auf lokale Initiative und unter lokaler Leitung zustande kommen, zu einer Kultur der Abhängigkeit beitragen. Denn in Kombination sind auch sie ein steter Strom von Geld ins Land, der Teil eines neuen, kuriosen Gleichgewichtes geworden ist. Abgesehen von verhältnismäßig kleinen Regierungsprojekten hat das meiste, was sich hier in Kagondo tut, ein kleines „Projekt“ und einen westlichen Geber im Hintergrund, angefangen von Schulmaterial und den von Action 5 organisierten und gemeinsam mit der deutschen Botschaft finanzierten Wassertanks für die Primärschulen über das Krankenhaus bis hin zum neuen Dach für die Kirche. Und das scheint mir auch der erste Gedanken zu sein, wenn irgendwo irgendwas fehlt — an wen können wir ein „proposal“ schicken. Das setzt sich das dann so fort, dass die meisten Leute hier wenn sie was brauchen als erstes an Justus denken, der in Doppelfunktion als Ratsmitglied und Action 5-Leiter als die lokale Geldverteilung wahrgenommen wird, und darunter auch sichtlich zu leiden hat. Es war faszinierend und ein bisschen erschreckend zu beobachten, wie die Bittsteller sich aneinanderreihen (er hat mir anvertraut, dass er eine Liste führt, die ich aber bisher versäumt habe mir mal zeigen zu lassen). Denn diese besondere Art von Überzeugungskraft, die sich vielleicht noch besser spüren lässt, wenn man die Sprache kaum versteht, kenne ich aus Europa von — Alkoholikern. Und das ist irgendwie meine Metapher geworden für das Verhältnis von afrikanischem Leben und westlichem Geld. Jenseits dieser psychologischen Seite ist eine andere Sorge von mir, dass nach Regierungsposten NGO-Arbeit die attraktivste Anstellung ist, und für einen ja irgendwie irgendwann nötigen produzierenden Sektor nicht viel qualifiziertes Personal übrig bleibt. Dass das nicht reine Präferenz ist (wenn auch teilweise) sondern auch mit Schwierigkeiten, für kleinere Unternehmen (jenseits des Mini-Entrepreneuriats am unteren Ende der Gesellschaft) Kapital zu beschaffen, ist ein anderes Thema, auf das ich in einem praktischen Beitrag eingehen werde, und was mir gerade als Entwicklungsprojekt und Ergänzung zu Action 5 im Kopf herumschwirrt.

Jedenfalls scheint die Gesellschaft ökonomisch zwischen Subsistenz und einer wachsenden Abhängigkeit von industriellen Produkten, die aber nicht im Land hergestellt werden festzuhängen. Und ähnlich sieht es interessanterweise auch mit dem Beziehungsleben aus, das mich auch (sofern in Gesprächen und Außenbeobachtung zu beurteilen) gründlich erschreckt hat. Auch hier gilt für mich jedenfalls: Es sagt schon was, wenn fast jeder mit dem man sich unterhält sagt, dass es schlimm sei, Männer wie Frauen. In einem Satz ist mein Gefühl, dass auch hier die traditionellen Rollen nicht mehr funktionieren (z.B. arbeiten Frauen zunehmend), aber es auch noch kein stabiles neues Modell gibt. Im Gespräch mit den Schülern über Leben und Zukunft höre ich diesbezüglich von den Jungs: Ja, ich will heiraten, aber es ist schwierig (heißt hier: teuer, und meint nicht nur das immer noch übliche Brautgeld). Von den Mädels: Ja, schon, aber erst nach dem College (ist die Hoffnung, in der Realität natürlich früher). Von den Männern höre ich Beschwerden, dass man sich auf die Treue der Frauen nicht verlassen kann, dass sie oft noch anderes „business“ haben (ich glaube die Begriffswahl sagt hier viel), und überhaupt man oft von ihnen ausgenutzt wird, ihnen die Ausbildung finanziert und dann verlassen wird. Außerdem behalten sie ihr Geld für sich, wenn sie selbst was verdienen in der Ehe, geben es für ihren eigenen Luxus und Vergnügen (Frisur, Kleidung, Handy) aus. Umgekehrt sehe ich die Frauen in einer halb-devoten Rolle: Wenn man zusammensitzt, es kommt ein Mann dazu und ist kein Platz frei, geht die Frau zur Seite, sitzt am Boden etc. Und selbstverständlich haben auch die arbeitenden Frauen noch volle Verantwortung für Haushalt, Kochen und Kinder. Es scheint für einige der Kolleginnen ein ziemlich perfektes Modell, dass sie mit Kindern (konkret junge Frauen mit meist einem Kleinkind) alleine hier leben, der Mann einige Reisestunden weg, und wird dann in den Ferien mal besucht. Und mir klingelt immer noch die wie aus der Pistole geschossene Antwort von einer Kollegin im Ohr, auf meine Bemerkung „ihr heiratet früh“, halb lachend halb ernst: „Ja, wir sind arm!“

Meine etwas philosophischere Einschätzung ist, dass hier die meisten Frauen eines echten Sinns und weitgehend der Selbstbestimmung in ihrem Leben beraubt sind, und sich deshalb einem (relativen) Konsumismus hingeben. Und dass in vielen Ehen die kulturellen Muster und Vorgaben gegeneinander ausgespielt werden, in einer Art passiv-aggressivem kalten Krieg: „Es muss was zu Essen auf dem Tisch stehen, und Putzen und Waschen gehen mich nichts an“ — „Du hast für mich und die Kinder aufzukommen, unsere Ausgaben sind Deine Sache“. Es ist für mich auch keine Überraschung, dass für die so zu Hausangestellten gewordenen Frauen die Gefahr real ist, dass andere Frauen aufregender sind, und Eifersucht ein großes Problem ist. Mehr überraschend und schockierend war zu hören, wie nahe vor-eheliche Beziehungen und Prostitution sich sind: Es scheint die Norm zu sein, dass der Mann besonders zum Anlass des Sex Geschenke und Zuwendungen springen lässt, durchaus auch Bargeld (evtl. euphemisiert als „für die Fahrt“). Auch das für mich ein Ausdruck der relativen Macht– und Perspektivenlosigkeit der Frauen in der Gesellschaft. Es gibt sogar ein eigenes Wort in Kiswahili für einen älteren Mann, der sich mit Geld und Geschenken sexuellen Zugang zu einer jungen Frau, oft sogar einer Schülerin, verschafft: Fataki. Und es gibt Artikel in Jugendmagazinen und Beiträge im Fernsehen dagegen. Umgekehrt bekommen natürlich auch die Männer nicht das, was sie sich wünschen: Eine echte Beziehung, die auch emotionalen Gehalt hat, und auf die man sich verlassen kann (Und: Ja, Männer wünschen sich das, dort wie hier). Was für mich illustriert, was ich zunehmend für eine Art Naturgesetz des Feminismus halte: Unterdrückung auf der einen Seite führt zu Unglück auf beiden Seiten. Was natürlich nicht impliziert, dass das Unglück gleich tief ist. Und auch die Frage nach den idealisierten guten alten Zeiten offen lässt, die ja auch schon sehr asymmetrisch waren. Die Lösungsansätze sind jedenfalls verblüffend: Ich kann von einem jungen Mann, der selbst auf der Uni war, hören, dass eine Frau nicht zu gebildet (verbildet?) sein sollte. Ein anderer Mann erklärt, er hoffe auf eine Weiße, die seien ehrlich. Ich denke mir innerlich: Du wirst die Augen rollen, „bwana“ (Herr). Spannenderweise gibt es ja mindestens künstlerisch-anekdotische Berichte von westlichen Frauen, die sich in eine traditionelle afrikanische Ehe begeben. Aber selbst wenn sich da jemand tatsächlich entscheidet, seine Selbstbestimmung aufzugeben, ist das ja dann eine (selbstbestimmte?) Entscheidung, ganz andere Sache als in diese Unfreiheit geboren zu sein.

Auch der nächste wichtige Aspekt des Lebens neben materieller Versorgung und „Liebes“beziehung, die Freundschaften und nachbarschaftliche Beziehungen, scheint mir unter einem Schatten des ökonomischen Drucks zu liegen. Wer etwas mehr hat als die anderen hat jedenfalls keinen Mangel an Freunden und Gästen, und hier fand ich an dem Afrika-Klischee viel Wahres: wer seinen Kopf etwas rausstreckt, an dem wird von allen Seiten gezerrt, und Freundschaften zu pflegen wird zu einem großen Ausgabenposten. Dem man sich übrigens nicht entziehen kann — es scheint mir keinen sozial akzeptierten Weg zu geben, einen potenziellen „Gast“ abzuweisen. Wer lange genug bei Dir zu Hause sitzt muss zum Abendessen eingeladen werden, was auch zu einem kleinen Machtkampf werden kann, der das Abendessen tief in die Nacht hinein verzögert. Dass ständig Herden von Nachbarskindern zum Fernschauen, Spielzeug benutzen und für kleine Zwischenmahlzeiten im Haus sind ist dann auch selbstverständlich. Habe das auch selber erlebt: ein paar von den kleinen „mandazi“, frittierte Kuchen, fürs Samstagsfrühstück gekauft (Sonntag ist wegen Kirche um 7:30 hier wenig gemütlich), und dann noch etwas gewartet, weil ich gerne mit dem Gastbruder frühstücken wollte. Ruck zuck sah ich mich hungrig-gierigen Blicken ausgesetzt, und hatte am Ende 2 von meinen 8 Kuchen übrig. Das hat natürlich was von einer traditionellen Sozialversicherung, aber in dem Fall sind die Abgaben (prozentual) deutlich höher als in Deutschland.

Auch die üblichen langwierigen Begrüßungen auf der Straße haben was sehr schönes und entspannendes, wenn man entspannt ist. Ich kenne einige Leute, die wenn sie wo hin müssen auf einem Hinterweg das Dorf verlassen, weil einfach an jemandem, den man kennt, vorbeizufahren geht nicht. Ich glaube auch hier treffen ein Alltag, der zunehmend manchmal einen Termin mit Uhrzeit vorsieht, und eine Tradition von langsam fließendem Leben aufeinander und verursachen innerliche Reibung. Spannend finde ich auch die Zusammenkünfte anlässlich der (häufigen…) Beerdigungen. Das „Wohnzimmer“ der traditionellen Hütte wird mit frischem Gras bestreut, und eine Menge Leute sitzen da zusammen. Und sitzen. Ich fand das nach anfänglicher Irritation eigentlich sehr angenehm, eine schweigende Gemeinschaft, die ein gutes Gefühl von Halt gibt. Gleichzeitig scheinen mir auch außerhalb von Beerdigungen Zusammentreffen oft zentral darin zu bestehen, dass man zusammen ist. Und es kann auch echt schwer sein, ein Gespräch zu führen, weil so häufig jemand kommt und geht, und ständig Handys klingeln. An die man auch immer dran geht, wie mir scheint in der Überzeugung, dass das dem Zusammensein keinen Abbruch tut.

Bleibt noch das Thema Religion, das mich auch seit ich hier bin immer wieder beschäftig. In mir selbst spüre ich ein starkes Widerstreben gegen die demütigenden Rituale (wieder und wieder endlos auf die Holzbank knien) ebenso wie gegen den sozialen Druck — es scheint jeder zu bemerken und zu kommentieren, ob man in der Kirche war. Da ist es das Kleinste, dass die Spenden in kleinen Umschlägen mit Namen abgegeben werden, und nach Monat und Jahr Summen gebildet werden — wir haben ja auch eine Kirchensteuer, und ein Priester muss leben. Und absurdes christliches (oder muss ich sagen: katholisches) Gedankengut trägt sicher viel zu den Probleme hier bei, von Safer Sex über die Eheprobleme bis hin zur Homophobie, die auch unter gebildeten Menschen erschreckend hoch ist — und religiös begründet wird. Alles in allem hat mich das in meinem Agnostizismus radikalisiert, und in der Überzeugung dass kein Weg daran vorbei führt dass Menschen verdammt noch mal selber nachdenken (und diskutieren) was richtig und falsch ist.

Andererseits erlebe ich die alten Priester hier im Dorf als Leuchttürme der Bildung und Menschlichkeit, und war sogar dazu angeregt, meine Gedanken zum Zölibat neu zu durchdenken (in die Richtung, dass es eine machtvolle Wirkung im Leben haben kann, besonders wenn die Alternative Ehen wie hier sind, aber bin immer noch überzeugt dass es als generelle Verpflichtung überwiegend Leid und Probleme verursacht). Und die meisten Individuen und Gruppen, die sich hier für’s Gemeinwohl einsetzen, haben einen stark religiösen Hintergrund. Und teilen dann ihren eigenen Wohlstand in einem Ausmaß, der selbst die hartgesottensten Philanthropen im Westen beschämen muss. Wobei da sicher auch die Gedankenfigur einen Beitrag leistet, die mir ebenfalls mehrmals begegnet ist: „Wenn ich sehe, dass mein Nachbar den ganzen Tag nichts isst, oder sein Kind wegen 10 Euro fehlendem Schulgeld von der Schule geworfen wird, wie kann ich dann …“ Und der Nachbar ist da eben kein metaphorischer Nachbar oder „Nächster“, sondern wohnt wirklich nebenan, während das Elend von Europa aus bequem weit weg ist.

Dann wieder andererseits ist natürlich da die ketzerische Frage, inwiefern das christliche Geben vor Ort ähnliche strukturelle Probleme hat wie die Entwicklungshilfe von außen, und mit dieser im Guten wie im Schlechten am selben Strang zieht. Aber das ist sehr spekulativ.

So, das ist mit einem tiefen Seufzer meine Afrika-Kritik. Ein Leben sicher nicht ohne glückliche Momente, die vielleicht auch heller strahlen weil sie so selten sind, aber eingebettet wie mir scheint in einen Strom von Sorgen. Dennoch ist das stereotype „Entspannt-Sein“ sicherlich da. Und ist vielleicht auch etwas, das ich zurück nach Hause mitnehmen kann. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich im gemeinsamen Ideenraum unserer (westlichen) Kultur eine Dichotomie von getriebener Produktivität oder entspanntem Nichtstun eingestellt hat. Was ja auch oft von der eigenen (mindestens meiner) Erfahrung bestätigt wird, wenn man aus so einer getriebenen Phase in die Entspannung eintritt und die Tage „nutzlos“ verstreichen. Aber das ist sicherlich auch ein Vorteil meiner Reise: Die relative Entspannung ist jetzt so lang, dass ich deutlich spüren kann, dass sich daraus ein von Innen kommender und freudiger Drang zur Tätigkeit entwickelt. Und dass man das auch im einzelnen Tag pflegen kann. Aber dazu mehr, wenn sich meine Erfahrung damit noch etwas gesetzt hat.

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Datum: Mittwoch, 29. Juni 2011 17:57
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