Indien 2 — Auroville in Breite und Tiefe

Ich bin versucht, auch meinen zweiten indischen Beitrag mit dem Wort wow zu beginnen, umschiffe diese Wiederholung aber hiermit. Ziemlich genau zwei Wochen sind schon vorbeigerauscht, zwei sehr verschiedene und jeweils auf ihre Art spannende Wochen. In der Ersten konnte ich an einer „Volunteer Introduction Week“ teilnehmen und in kurzer Zeit eine Menge verschiedene Ecken und Bewohner Aurovilles entdecken, und die Zweite ist meine erste Woche als Volunteer im Kindergarten für Auroville-Kinder.

Die erste Überraschung: Es wird in Auroville viel mehr produziert als ich dachte. Wobei von irgendwas die ca. 2200 Bewohner ja leben müssen, und ich bin beruhigt dass es nicht nur Tourismus ist. Viel dreht sich um innovative Materialien — das fängt mit „einfachen“ Sachen an wie Ziegeln aus komprimierter Erde, die ähnlich wie Tonziegel verwendet werden, aber nicht gebrannt werden müssen. Das spart Energie und damit Bäume, die hier in Form von Brennholz immer noch eine Hauptenergiequelle sind. Weiter geht’s mit „Wellblech“ aus recycelten Getränkekartons, entwickelt von Studenten, die in Kooperation mit einer Uni aus Washington State hier sind. Und treibt auch so skurrile Blüten wie Beton-und-Stahl Fertighaus-Konstruktionen, deren Fundamente mit Wasser gefüllt Fischen Heimat geben und Ameisen fernhalten (letzteres eine sehr gängige Technik hier).

Auch der Hausbau blüht, es gibt ein Forschungszentrum, in dem viel aus dem Bereich Architektur passiert und das besonders für junge indische Architekturstudenten wohl einige Anziehungskraft jenseits der spirituellen Ideen zu haben scheint. Da habe ich mir kaum technische Details merken können (und wollen), aber zwei schöne Bilder:

Ansonsten haben die Produkte großteils was künstlerisches, und werden sowohl lokal als auch weltweit abgesetzt. Die Arbeitsplätze reichen von urig bis Fabrikhalle. Die Bilder zeigen Papier– und Seidenproduktion, naturgemäß besonders fotogen. Das altmodische Bügeleisen ist übrigens anscheinend besser für die Seide, es gäbe natürlich Strom.


Spannend war an dieser Einführungswoche auch, dass wir von verschiedenen Aurovillianern jeweils einen Tag betreut und herumgeführt wurden, und sich besonders beim gemeinsamen Mittagessen Gespräche über die Welt und das Leben (in Auroville und anderswo) ergaben. Aber dazu später mehr, zusammen mit den anderen Eindrücken, und hier erstmal chronologisch weiter.

Die zweite Woche also gleich voll rein in den „Nandanam“ Kindergarten, in dem Kinder aus Auroville zu den nächsten Menschen heranwachsen sollen. Auroville ist insgesamt sehr auf die Zukunft ausgerichtet, und entsprechend großes Gewicht hat die Erziehung der Kinder. Beziehungsweise fängt da schon das Dilemma an — die Kinder sollen ja zu etwas Neuem werden, dem supramentalen Übermenschen (in einem etwas anderen Sinn als bei Nietzsche). Das bedeutet, dass herkömmliche Bildungsinstitutionen und –praktiken sehr kritisch gesehen werden, die ja nur das Alte reproduzieren. Es geht also um ein Aufwachsen Lassen, das nicht Erziehung ist. Und ich durfte bei einem Abendessen schon miterleben, dass sich da selbst die sehr liberalen und reflektierten Institutionen hier immer wieder skeptisch beäugen lassen müssen.

Zunächst hatte ich aber ganz andere Sorgen, denn letzten Donnerstag war „Open House“, ein Tag der offenen Tür, in dem die Arbeit des Kindergartens und der Kinder den Eltern und anderen Interessierten vorgestellt werden sollte. Und die Atmosphäre da hätte man genau so in einem Freiburger Kindergarten finden können — alternativ, aber irgendwie schon auch leistungsorientiert. Dazu passen auch die Eltern, wobei die Mehrzahl tatsächlich indischer Abstammung ist, und viele sogar aus den umliegenden Dörfern kommen. Übrigens sieht man den Stellenwert der Kinder in Auroville auch daran, dass die materielle Ausstattung Freiburger Kindergärten vermutlich übertrifft, auch das Gebäude ist brandneu. Hier sind ein paar Bilder vom Open House — der Eingang, Flur mit Blumenschmuck, der Innenhof mit Matrimandir-Miniatur, und schließlich das Klassenzimmer, in dem ich jetzt Montag bis Freitag arbeite. Allerdings ist das normalerweise in verschiedene Themenecken unterteilt und hier zur Präsentation der Sachen der Kinder umgeräumt.


Die Kinder sind 3 bis 6 Jahre alt und verbringen die meiste strukturierte Zeit in vier nach Alter unterteilten Gruppen. Ich arbeite mit zwei jungen Frauen, eine von hier und eine aus Nordindien, in der Gruppe „Agni“ (ich glaube das heißt Feuer, jedenfalls haben alle Gruppen ein Element als Namen), mit den Ältesten. Insgesamt sind ca. 50 Kinder hier, in meiner Gruppe sind es 13. Das Betreuungsverhältnis ist also eigentlich top, aber die Kinder haben wirklich sehr unterschiedliche und sehr ausgeprägte Persönlichkeiten und Temperamente…

Es war deshalb schon anstrengend, für das Open House eine kleine Theateraufführung auf die Beine zu stellen und diverse kleine Kunstprojekte zum präsentationsfähigen Abschluss zu bringen. Es ist schon anstrengend, alle zum gemeinsamen Vormittagsimbiss und Mittagessen einzusammeln. Aber trotzdem und auch deswegen finde ich die Arbeit mit den Kindern sehr lohnend. Noch mehr als in einer Beratungssituation mit Erwachsenen habe ich immer das Gefühl, mehr als Mensch denn als professionelle Rolle angesprochen und gefordert zu sein. Und eine entsprechende Fülle an Gelegenheiten zum persönlichen Wachstum finden sich. Es gibt zwei eher zurückgezogene und „seltsame“ Kinder, die auch auf eine Art Sonderschule gehen werden nach dem Kindergarten, und es gibt natürlich einige, die von Laien mit ADHS diagnostiziert würden. Kurioserweise fühle ich mich zu beiden Gruppen gleichermaßen hingezogen und finde es spannend, ihre geistigen und emotionalen Welten zu erkunden. Freue mich also sehr, hier zu sein, und bin in vieler Hinsicht gespannt auf jeden neuen Tag.

Dazu tragen natürlich auch die Kolleginnen und der Kollege bei, die bis auf die Geschlechterzusammensetzung einen ganz guten Querschnitt von Auroville abgeben — jung und alt, lokal und international, von erst seit kurzem hier bis hier aufgewachsen. Jetzt setzt gerade der übliche nachmittägliche Stromausfall ein und beschert mir und Dir eine willkommene Pause. Was für ein Bild von Auroville sich nach vielen Radtouren, Gesprächen mit den Leuten der Einführungswoche, den Kollegen und selbsternannten Philosophen auf der Straße in mir zusammensetzt muss also bis zum nächsten Mal warten und weiter reifen.

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Datum: Montag, 21. Februar 2011 12:32
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Ein Kommentar

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