Das dicke rote Buch
Ich hatte einige Male das dicke rote Buch erwähnt, das mich hier aus Stanford gleich nochmal in eine ganz andere Welt entführt hat. Nachdem es jetzt schon eine ganze Weile ausgelesen neben dem Bett liegt und immer noch schöne Erinnerungen und interessante Gedanken nachklingen ist es höchste Zeit, ein paar Details preiszugeben. Soviel jedoch vorweg: Es handelt sich um einer der besten Bücher, die ich je gelesen habe, und das will was heißen Und es hat ein wunderschönes Cover…
„The Hakawati“ von Rabih Alameddine, ein libanesisch-amerikanischer Autor (und anscheinend auch Maler). Ich wurde über einen NYTimes-Artikel zuerst aufmerksam und war neugierig auf ein Buch, das einer alten arabischen Tradition folgend viele kleine Geschichten in eine große Rahmenerzählung packt — man denkt gleich an Tausendundeine Nacht. Außerdem bin ich schon eine Weile immer hellhörig, wenn ich an zeitgenössische Berichte vom Leben in muslimischen Ländern herankomme.
Was ich beim Lesen erlebe ist im Wesentlichen: Fesselnde Unterhaltung, viel subtiles zwischenmenschliches Geschehen, einige kulturvergleichende Einsichten. Und eine beinahe philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema „Erzählen“ an sich. Und beinahe heißt hier: Das Thema wird nur am Rande abstrakt behandelt. Zu Beginn der Kapitel finden sich Zitate, die dann nachklingen und einen Rahmen schaffen, der dazu einlädt die beim Lesen erlebten Gefühle zu reflektieren. Das geht vom Anfang, einer herausfordernden Behauptung für Psychologen, die daran gewöhnt sind an die Grenzen der verbalen Mitteilung zu stoßen:
Everything can be told. It’s just a matter of starting, one word follows another. (Javier Marías, A Heart So White)
Über einen Ausflug tief in die europäische Geschichte …
All sorrows can be borne if you put them into a story or tell a story about them. (Isak Dinesen, cited by Hannah Arendt in The Human Condition)
… und ein Augenzwinkern:
Literature is the most agreeable way of ignoring life. (Fernando Pessoa, The Book of Disquiet)
Bis hin zu Gedanken über das Wesen des Menschen:
Man is eminently a storyteller. His search for a purpose, a cause, an ideal, a mission and the like is largely a search for a plot and a pattern in the development of his life story – a story that is basically without meaning or pattern.
Ein Effekt der Lektüre ist für mich jedenfalls, dass ich erneut fasziniert bin vom Konzept des Erzählens in der Psychologie und psychologischen Forschung. Ich bin immer mehr überzeugt, dass da ein Zugang zur inneren Welt von anderen Menschen liegt, der wegen seiner geringen Standardisierbarkeit von vielen Wissenschaftlern ungern gegangen wird, aber sehr lohnend sein kann. Ein sehr knapper Einblick ist wie so oft auf Wikipedia zu finden, z.B. unter Narratives Interview. Ich bin gespannt und froh, dass ich im Herbst als Gabriele Lucius‘ Tutor mit diesem Themenfeld nochmal intensiv zu tun haben werde.