Indien 3 — Spiritualität und individualistische Gemeinschaft in Auroville

Jetzt geht es an einem ruhigen Sonntagnachmittag also endlich mal an die Zusammenschau der sozialen und spirituellen Lebenspraxis, die sich mir hier in Auroville präsentiert. Um ehrlich zu sein habe ich mich für Letztere am Anfang wenig interessiert, aber es stellt sich heraus, dass der soziale Aspekt hier ohne den Spirituellen kaum verstanden werden kann. Fast alle Menschen, mit denen ich über Auroville und was das Leben hier für sie bedeutet spreche, beziehen sich recht bald auf die Lehre von Sri Aurobindo und „the Mother“ (auch „la Mère“, „Mutter“ habe ich auch von Deutschen noch nie gehört).

Ich weiß noch sehr wenig darüber, was die genau sagen. Im Zentrum scheint zu stehen, dass man sich als Diener eines „Divine Consciousness“ (göttliches Bewusstsein?) versteht, und von „the Truth“, der Wahrheit, auch im Englischen mit Großschreibung und damit der Alptraum jedes Konstruktivisten, einschließlich mir. Tatsächlich ist meine Reaktion auf die ersten Eindrücke, sowohl was mir erzählt wird also auch meine erste eigene Lektüre, recht skeptisch — es ist bestimmt nichts Schlimmes, aber halt obwohl es das nicht sein will irgendwie doch eine Religion, mit allem was dazugehört. Zugutehalten kann ich der Lehre auf jeden Fall, dass die Wahrheit im eigenen Inneren gesucht werden soll, und dass es für den Weg dahin wenig bis keine konkreten Vorgaben gibt, so dass man sich also im Endeffekt doch mit seinen menschlichen Kapazitäten auf die Suche macht.

So ergibt sich auch ein erstes Paradoxon des Lebens in Auroville — die eine Sache, die alle verbindet, wird von jedem anders verstanden, was auch jedem bewusst ist. Es bleibt davon als verbindendes Element so etwas wie ein stetiges Streben nach Weiterentwicklung des Menschen, beginnend immer bei sich selbst, und Überwindung der menschlichen Begrenzungen, vor allem der von anderen Abgrenzenden, Ego-bezogenen. Klingt eigentlich gut, wobei auch hier mir bei so viel zukunftsbezogenheit ein wenig schwindlig wird, und ich nicht genau verstehe wo da das Hier und Jetzt seinen Platz hat, das ja von vielen anderen spirituellen Traditionen hoch geschätzt wird. Und mit meinem Interesse an Kulturpsychologie und Kulturen vermisse ich da auch eine Wertschätzung der historischen und kulturellen Wurzeln, die wir alle mitbringen.

Wobei kurioserweise das, was ich am philosophischen Fundament, soweit es sich mir bis jetzt erschließt, kritikwürdig finde, in der Lebenspraxis hier ganz anders aussieht. Und da vollbringt Auroville in meinen Augen ein echtes Wunder, und ein zweites Paradoxon. Im Grunde ist es eine fast anarchistische Gemeinschaft von ausgeprägten Individualisten. Fast alle Zusammenschlüsse sind zweckgebunden und mehr oder weniger ad-hoc, und fast alles was Menschen hier tun ist freiwillig. Wenn man einmal den Status eines vollen Mitglieds hat, bekommt man eine Grundsicherung, und behält von den materiellen Früchten der eigenen Arbeit nur einen kleinen Teil. Diese wird zwar als wichtig angesehen (im Grunde ist das ein Kern des Auroville-Projekts in Abgrenzung vom Ashram im nahegelegenen Pondycherry, das auf die selben Gründer zurückgeht), aber eben mehr als „Karma Yoga“, als Materialisierung des Spirituellen und gleichzeitig spirituelle Übung. In Auroville geht es also darum, mit einem spirituellen Bewusstsein ein „reales“ Leben zu befruchten, das Bewusstsein in die Welt zu bringen, mit Arbeit und Familie.

Daneben bewundere ich sehr, wie gut das Nebeneinander und auch Miteinander dieser sehr heterogenen Bevölkerung zu funktionieren scheint. Die meisten Aurovillianer sind Inder, aber es gibt auch eine Menge Leute von überall sonst auf der Welt. Und es gibt alle sozio-ökonomischen Schichten, reiche Westler (und Inder), Studenten, Lebenskünstler, und auch einfach Arme. Wie ein Ansatz, das zusammen zu bringen, aussieht, möchte ich aus dem aktuellen „News and Notes“ zitieren, in dem kulturelle und andere Aktivitäten wöchentlich bekannt gegeben werden, über ein Hausprojekt:

We wanted to avoid two extremes that unfortunately have developed in past in Auroville, i.e. either to build a potential “ghetto” of Aurovilians without financial resources / living exclusively under the present maintenance system or to create the “exclusive ghetto” of the more wealthy. Maitreye aimed to be inclusive, lodging a wide range of residents with different resources and integrating them in a common living experience; something that we consider essential if we want to materialize progressively our long cherished dreams of a fraternal community.

Alles in allem bin ich also echt beeindruckt von dieser gelebten Utopie, und in den Gesprächen gefällt mir gut, dass aus einer grundsätzlich positiven und optimistischen Grundhaltung heraus sehr kritisch über Auroville reflektiert wird. Die Menschen hier verschließen nicht die Augen vor den Widersprüchen und Herausforderungen, die es noch zuhauf gibt, aber sie glauben daran, dass das Projekt gelingen wird, und sie gehen sehr respektvoll miteinander um. Und das ist der Punkt wo ich mich frage, ob so etwas ohne die spirituelle, in meinen Augen quasi-religiöse Komponente funktionieren könnte. Ich stelle es mir jedenfalls sehr viel schwieriger vor.

Einer der für mich eklatantesten Widersprüche ist für mich der Kontrast zwischen den Aurovillianern und den Tamilen aus den umliegenden (bzw. mehr oder weniger absorbierten) Dörfern, die hier arbeiten. Großteils sind das niedere Tätigkeiten: Frauen sind vor allem als „Ammas“ beschäftigt, was Mutter heißt und eine ehrenvolle Bezeichnung ist, praktisch aber sowas wie Hausmädchen bedeutet. Selbst die WG der jungen Lehrer, bei denen ich jetzt oft bin, braucht sich also ums Putzen nicht zu sorgen, und kann am Abend selbst das benutzte Geschirr stehen lassen. Diese Ammas verbringen auch eine Menge Zeit damit, Laub zu fegen, was man glaube ich als Alltagsmeditation verstehen muss — wenn der Sandboden einmal durchgefegt ist kann man am anderen Ende gerade wieder anfangen.

Die Männer stehen tendenziell eine Stufe höher, sie machen Nachtwachen oder Straßen-Security (Auroville ist in der Hinsicht selbstverwaltet und es gibt keine echte Polizei), kochen und warten Fahrräder. Ich glaube nicht, dass das schöne Leben in Auroville mehr auf dem Rücken von ökonomisch benachteiligten Menschen stattfindet als überall im Westen, aber hier sieht man es halt direkt. Ich habe mir versichern lassen, dass die Arbeitsbedingungen für die lokalen Verhältnisse sehr gut sind, und die Menschen sehen auch zufrieden aus. Dennoch ein komisches Gefühl. Vor allem auch, weil sich die Arbeiter im Augenschein so deutlich von den Aurovillianern unterscheiden. Letztere strahlen in der Regel schon eine große Offenheit und Herzlichkeit aus, und vor allem auch so etwas wie Bewusstheit, wirken sehr wach, lächeln und stellen Blickkontakt her. Dagegen kann ich mir kaum helfen, den Arbeitern eine eher animalische Existenzform zuzuschreiben, und mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen ist es sehr schwierig, in Kontakt zu kommen, selbst wenn manche gut Englisch sprechen wirken sie in der Regel recht in sich gekehrt.

Das Leben hier ist sehr bunt, es gibt neben den vielfältigen Betrieben und Organisationen, in denen gearbeitet wird, eine Menge von kulturellen und körperlichen Aktivitäten, von Yoga über Martial Art bis hin zu diversen Tanzformen und Frisbee oder Fußball. Ich könnte fast jeden Abend zu einer Tanzvorführung oder Musikveranstaltung gehen, von traditionell bis sehr modern. Schön ist auch, dass es mit der „Solar Kitchen“, wo mittags und abends günstig und gut gegessen werden kann, und der dazugehörigen Terrasse mit Café auch ein allgemeiner Treffpunkt existiert, wo man schnell Leute wiederkennt.

Nach dieser Textlast einfach noch ein paar knapp kommentierte Bilder:

Der Strand, wo Fischer auf ziemlich armseligem Niveau ihre Existenz fristen und nicht nur ins Meer sondern auch in den Sand kacken. Wegen einem vor kurzem gebauten Hafen ist die Erosion des Sandes (bzw. einseitiger Abtransport durch den 9 Monate vorherrschenden Südost-Wind) ein Problem, weshalb es immer schwieriger wird die Boote die steile Böschung hochzubefördern, und der Fischmarkt auf dem Bild mit den Kindern fand früher in der zerfallenen Hütte im Hintergrund statt. Hinter der Blumenpracht übrigens eine Auroville-Community, die sich auch früher an 100 Meter feinem Sand vor der Tür erfreut haben.

Sehr faszinierend auch die Community „Sadhana Forest“, von einem isrealischen Paar gegründet und mit ca. 20 langfristigen und 100 kurzfristigen Volunteers fleißig an der Wiederaufforstung und Wasserkonservierung — anscheinend schaffen sie es, den Grundwasserspiegel jährlich um einen Meter zu heben. Jeden Freitag laden sie 3–4 Busladungen Leute zusätzlich zu einem Abendessen und Film ein, im Sinne einer „Gift Economy“, wo man erstmal gibt und sich darauf verlässt, dass man irgendwoher auch bekommt. Scheint zu funktionieren. Ach ja: Veganer sind sie auch, bzw. leben dort vagen. Die Bilder zeigen die Kochtruppe für die Massenspeisung, (gespendete) Solarzellen, Schlaflager für die Kurzzeitgäste, und die jungen Bäume mit Wasserauffangkonstruktion.

Weiter kann ich es mir nicht verkneifen, die lustigste indische Toilette zu veröffentlichen, die mir begegnet ist. Sind nicht alle so wild, aber verdienen sich insgesamt schon den Ruf, den sie zu Hause wohl haben…

Zurück zu den schönen Seiten, meine Abschiedsbilder vom Center Guest House, links hinter der Wurzel das Dreibettzimmer (bzw. Haus), das ich alleine bewohnt hatte, und ein Sonnenaufgang im majestätischen Banjan-tree.

Gleich danach die rustikale Hütte in der Community „Rêve“, in der ich jetzt wohne, von außen und innen.

Noch ein bisschen Naturschönheit sowie ein Teich mit tollen kleinen Fischen, die mit angenehmem Kribbeln und Kitzeln abgestorbene Haut fressen, und ein Versuch den wunderschönen Nachthimmel einzufangen. Kann mir jemand sagen, ob das Sternbild wie ich vermute der Schütze ist?

In der Nacht kann man sich außer am Himmel auch an der Beleuchtung der Freilichtdisko erfreuen, und am rot beleuchteten Matrimandir.

Letzteres bietet auch einen malerischen Hintergrund für zwei Sonnenaufgangszeremonien (das weicht nur wenig von meinem normalen Schlaf-Wach-Rhytmus hier ab!), eine anlässlich des Geburtstags der Mutter und eine zum 43. Auroville-Jubiläum (die Kerzen schreiben „bénédictions à Auroville“ in der Handschrift der Mutter).

Auch DER Banjan im Herzen Aurovilles ist ein prachtvoller Anblick, ich habe vor kurzem gehört, dass eine alte Frau darunter ihre Hütte hatte und den Baum vor Brennholzsuchern beschützt hat, mit einer alten Legende im Kopf, die die ersten Aurovillianer wohl eingelöst haben, als sie sich daran machten, die Sandwüste, die sich auf dem Plateau sonst überall ausgebreitet hatte wieder zu begrünen.

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Datum: Donnerstag, 3. März 2011 19:00
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Weltreise 2011

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6 Kommentare

  1. 1

    Du bist ein schöner Fotografen Christoph!!!!!!! :*

  2. 2

    Lieber Christoph,
    ich kann deine Eindrücke nur bestätigen, ich hab Auroville sehr ähnlich wahrgenommen. Hab grad die 3 Einträge gelesen, die Bilder angeguckt und fühl mich, als wäre ich gerade tatsächlich wieder da. Danke dir :-) Und genieß die verbleibende Zeit noch! Falls du Lust hast, schau mal in Adventure vorbei und guck, ob Kumar noch dort wohnt. Grüß ihn ganz lieb von mir! In ihm hättest du bestimmt einen sehr guten Gesprächspartner, weil er vom Dorf kommt und Aurovillianer ist, also beide Lebenswelten sehr gut kennt, und sehr gut Englisch spricht. Falls sonst noch jemand in Adventure wohnt, der mich noch kennt, natürlich auch grüßen!!!
    Alles Liebe dir,
    Mona 

  3. 3

    Das klingt ja wirklich spannend, lieber Christoph. Ich freue mich immer wieder über neue Posts von dir. Lass es dir gut gehen. Grüßle, Jana
    PS: meines Erachtens ist der Orion

  4. 4

    Hallo Christoph, sehr schön geschrieben und super Bilder, Deine Hütte ist lustig?? und die Reinigung der Füße durch die Fische super. Toll, daß ich sehen und nachempfinden kann wie schön Deine Reise ist…genieße weiter!!! Grüße aus Schornbach

  5. 5

    Hi Christoph!
    Heieiei — Wunderbar, von dir zu lesen! Und dieses Fernweh dabei zu spueren, und die Moeglichkeit, all das auch mal zu besuchen. Danke, du Pionier!
    Das Sternbild ist der Orion, dieses Trapez aus vier Sternen (hiess doch so, oder?) mit einem Rechteck darin und sichtbar, zentral, dem Guertel des Orion, von dem der Schwanz des Orion herunterbaumelt. So seh ich das zumindest.
    Schoen, an deiner Sicht auf diese Welt teilzuhaben. Und ich bin sehr gespannt, was fuer Einsichten und Ideen dir das noch bringt.
    Viele Gruesse aus der Schweiz, wo ich gerade „allfaellige Bueroarbeiten“ erledige, damit andere sich fuer das Bewusstseinswachstum von Fuehrungskraeften und die Vision von Jerusalem als einer freien und offenen Stadt zum Erlernen des Friedens in der Welt einsetzen koennen.
    Gehab dich wohl!
    Luk

  6. 6

    Finde ich sehr spannend deine Beobachtungen zu den  spirituellen Grundlagen von Auroville. Was braucht es mehr als Wertschätzung und Achtsamkeit im Umgang — muss man da noch von Religion sprechen? Zu den Tamilen: Es wäre interessant zu wissen, welche eigene Kultur/Gemeinschaft sie pflegen und welche Bildung/Entwicklungsmöglichkeiten ihre Kinder haben.
    Deine Bilder sind wirklich ein wunderbares Fenster in diese für uns exotische Welt. Freue mich auf die nächsten.
    In Liebe. Deine Mutter