Glasgow: Zwischen der Arbeit

Der Ernst des Lebens hat in Glasgow begonnen, und es ist ein richtiger Ernst, der mir in der Arbeit begegnet.

Eine Beratungsstelle mit Schwerpunkt auf Traumata durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Vergewaltigung (wenn auch zum Glück nicht nur) ist kein Waldspaziergang. Die ersten Wochen waren sehr anstrengend. Nachdem ich die ersten paar Tage noch guter Dinge war merkte ich dann am Wochenende, wie sehr mir die ganzen Geschichten doch nachhingen. Und das, obwohl ich in einem tollen Team gut aufgehoben bin. Zum Glück haben mir ein freier Montag und eine Woche mit sehr wenig „Kundschaft“ (einige Leute kommen zu den Erstgesprächen nicht, was aber sehr schwankt) die dringend gebrauchte Erholung gebracht. So bin ich nach einem ziemlichen Energietief letzte Woche heute guter Dinge, obwohl viel los war, und fühle mich den kommenden Anforderungen gewachsen.

Und ich kann die zum Lernen und Erfahrungen sammeln perfekte Umgebung richtig ausnutzen. Die Berater kommen aus verschiedensten „Schulen“ von Kognitiven Verhaltenstherapeuten über Gesprächstherapeuten bis hin zu Psychodynamikern und Gestalttherapeuten ist alles geboten. Und auch die Klienten sind vielfältiger, als meine ersten Sätze vermuten lassen würden. Neben vielen Missbrauchsgeschichten (die an sich schon eine große Vielfalt von Lebensgeschichten bergen) hier ein paar Eindrücke: Ein Fünzigjähriger Mann, den seit zwanzig Jahren die Frage plagt, ob er nicht schwul ist — verkompliziert durch eine Geschichte von paranoider Schizophrenie, Depression und Sozialphobie. Eine Asperger-Autistin, von der ich erfahre dass viele Betroffene Frauen extreme Körperbildprobleme haben. Eine ehemalige Prostituierte, die gerade eine Methadon-Substitution für Heroinentzug macht, was aber nicht ganz klappt. Eine erfahrene Therapeutin, die selbst ein Trauma erlebt hat, was sich nach einer skurrilen Mischung aus Abklärung meinerseits und Supervision ihrerseits anfühlt. Ein junger Mann aus der Unterschicht, der vor Muskeln kaum durch die Tür passt und Probleme mit Temperament und Aggression hat — aber in der auf der Warteliste verbrachten Zeit durch eine andere Institution eine fast wundersame Verbesserung erlebt hat. Ich wünschte, ich könnte allen angehenden Psychologen das stolze Leuchten seiner Augen zeigen, während er erzählt dass er jetzt nachdenkt bevor er zuschlägt, und außerdem vor kurzem sein erstes Buch gelesen hat …

So wachse ich langsam in die Verantwortung, die ich hier ausfülle. Und freue mich besonders, bald eine richtige Supervision zu bekommen, wöchentlich bis zum Ende des Praktikums. Das fühlt sich schon fast nach Therapeutenausbildung an!

Weil das alles schwierig in Bildern festzuhalten, und ohnedies langweilig anzuschauen ist, im Folgenden nur ein Bild aus der Berater-Basis, mit mir noch ein wenig verstört von den ersten Tagen … Und dann noch ein paar Glasgower Impressionen.

Das Hinterzimmer, sozialer Treffpunkt. Wo sich die Berater beraten.
Berater-Basis

Trendwende im Glasgower Nachtleben: Tutus sind wieder out. Kurze Röcke bleiben in.
Tutu

Man traut sich auch in Schottland, Freilufttheater zu machen! Und es hat wirklich nur wenig geregnet. Was das Stück aber nicht gerettet hat. Halbwegs lustig, aber belanglos. Das Ambiente (im Botanischen Garten) und die Gäste (ausgewachsenes Picknick) waren aber bemerkenswert.
Freiluft-Theater

Noch mehr Kunst — ein nettes Graffiti vor der ehrwürdigen School of Art, mit einer schönen Botschaft.
Graffiti

Und der Eingang von selbiger Kunstschule, dessen Architekt und Gestalter Mackintosh sehr berühmt ist, mindestens in Glasgow…
School of Art

Der Beweis, dass es auch hier sowas wie einen Sommer gibt, im Durchschnitt 1 Stunde am Tag: Cindy und ich im wunderschönen Kelvingrove Park.
Kelvingrove Park

Zwei Eindrücke vom modernen Glasgow: Das spacige „Islamic Centre“ …
Moschee

… und alte Steine, die sich in großen Glasflächen spiegeln.
Stein und Glas

Auch das modernes Glasgow: Eine Runde von Theaterstudenten internationaler Herkunft. Und ich :-)
Dinner Party

Und zum Abschluss: Eine Oase in der grau-schwarzen Vorstadtwüste:
Citizens Rose Garden

Der „Citizen’s Rose Garden“!
Grau-Grün-Rose

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Datum: Dienstag, 4. August 2009 1:07
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4 Kommentare

  1. 1

    Ahhh, Scotland! :)Würde mich auch ma reizen! Allerdings vorrangig erstma wegen der Landschaft und so…

  2. Dieter Breuninger
    Mittwoch, 5. August 2009 16:53
    2

    Lieber Christoph,
    danke für den informativen Artikel.
    Ich verstehe nun besser, wie dein Alltag aussieht. Eines verstehe ich noch nicht:
    Was ist ein Tutu?
    Liebe Grüße
    dein Papa

  3. 3

    Hallo Christoph!
    Dein Bericht ist wirklich eine spannende Lektüre. Das scheint ja wirklich eine fruchtbare Zeit für dich zu sein/werden. Dass dir eine Supervision angeboten wird, finde ich klasse.
    Sehr gefreut hat mich auch das sonnige Parkbild von dir und Cindy, denn: Wer nicht genießen kann, wird ungenießbar.
    Liebe Grüße von Angela

  4. 4

    Hey Marco!Schön Dich zu hören! Ja, ich hoffe ich komme noch dazu, das etwas auszukosten bevor ich wieder abreise. Und ich hoffe, wir sehen uns im Herbst bald mal wieder!