Kindesmissbrauch und Homosexualität

Mein Praktikum konfrontiert mich mit einer Menge Menschen, die Opfer von sexuellem Missbrauch sind. Manche davon sind schwul oder lesbisch, und von denen sorgen sich viele, ob ihre sexuelle Orientierung durch den Missbrauch geprägt wurde. Vor dem Hintergrund verschiedener psychologischer Theorien, insbesondere aus der tiefenpsychologischen Richtung (die einzige, die sich intensiv mit Sexualität beschäftigt), lassen sich durchaus Verbindungen konstruieren. Aber natürlich wäre es für die Betroffenen sehr schwierig, wenn ein so zentraler Teil ihrer Identität auf den Missbrauch zurückzuführen wäre. Die Suche nach wissenschaftlichen Daten dazu war nicht einfach, aber die Antwort scheint beruhigend auszufallen: Missbrauchserfahrungen traumatisieren zwar, und können zu einer Menge Problemen im Umfeld von Sexualität führen. Die sexuelle Orientierung beeinflussen sie nicht (was auch ein weiteres Mal bekräftigt, dass Homosexualität kein „Problem“ ist).

Hier ein paar interessante Stellen aus einem guten Artikel:

Quelle: Wilson, H., & Widom, C. (2009). Does Physical Abuse, Sexual Abuse, or Neglect in Childhood Increase the Likelihood of Same-sex Sexual Relationships and Cohabitation? A Prospective 30-year Follow-up. Archives of Sexual Behavior (online).

Zitate von http://wthrockmorton.com/2009/01/20/sexual-abuse-and-sexual-orientation-a-prospective-study/

The main significant finding was reported in the abstract: “men with histories of childhood sexual abuse were significantly more likely than controls to report same-sex sexual partners.” There was no relationship between child sexual abuse and sexual behavior for women. Also, “child physical abuse and neglect were not significantly associated with increased likelihood of same-sex cohabitation or sexual partnerships” (from paper, pg 7). While sexual abuse is associated with an increased likelihood of same-sex behavior, this is not a study that shows homosexuality is caused by sexual abuse.

Eine weitere interessante Einschränkung ist, dass anscheinend mehrere Studien Unterschiede im rückblickenden Bericht von Missbrauchserlebnissen zeigen:

Demonstrating a difference between gay and straight groups on sexual abuse is not novel. Numerous studies have reported at least some difference with only a few reporting no difference in abuse frequency between groups. (http://wthrockmorton.com/2009/06/05/a-major-study-of-child-abuse-and-homosexuality-revisited/)

Abschließend eine teilweise Antwort auf die Frage, warum diese Idee überhaupt so viel Popularität hat:

In evangelical circles, sexual abuse is frequently offered as a major cause of homosexuality, if not the major cause. NARTH often points to the traumatic experience as an important factor. Recently, Focus on the Family promoted a paper by Jeff Johnston on the topic.

Autor:
Datum: Montag, 10. August 2009 23:58
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Deutsch

Feed zum Beitrag: RSS 2.0 Kommentare und Pings geschlossen.

3 Kommentare

  1. 1

    Noch zwei Bemerkungen:

    Die Tatsache, dass Homosexuelle relativ konsistent mehr Missbrauch berichten als Heterosexuelle ist bemerkenswert. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen im Praktikum halte ich folgende Erklärung für sinnvoll: Die Erinnerungen an den Missbrauch sind oft ziemlich tief vergraben und tauchen bei einigen Menschen sehr spät auf, was vermuten lässt dass sie bei anderen für immer im Unbewussten schlummern. Es ist davon auszugehen, dass sich Menschen im Prozess, ihre Homosexualität zu entdecken, mehr mit Sexualität beschäftigen als Heterosexuelle, und dabei eher auf die entsprechenden Erlebnisse stoßen.

    Ebenfalls spannend ist, dass Menschen mit Missbrauchserfahrungen mehr homosexuelles „Ausprobieren“ berichten. Deutet für mich darauf hin, dass sie (vermutlich genau wegen der verbreiteten Annahme eines Zusammenhangs) ihre Sexualität stärker in Frage stellen. Dass sie trotzdem nicht vermehrt in homosexuellen Beziehungen sind wird vor dem Hintergrund ein umso stärkerer Beleg für einen fehlenden Zusammenhang.

  2. 2

    Es gibt eine Menge Literatur zu mangelnden Validität von Missbrauchs-Selbstberichten, bereits nach 5+ Jahren. Bei 30 wird es die Datenqualität vermutlich ordentlich verhageln.

    Nichstdestotrotz sehr interessant.
    ta-ta
    E.

    PS: der facebook link hierher hat eine “)“ am Ende zu viel.

  3. 3

    Oh, Danke für den Hinweis — mir war eine zentrale Eigenschaft der Studie wohl so selbstverständlich, dass ich sie nicht zitiert habe: die Studie ist prospektiv, d.h. es werden Menschen verfolgt, deren Missbrauch schon im Kindesalter vor Gericht war. Vermutlich eine in verschiedener Hinsicht selektive Stichprobe, umgeht aber das Erinnerungsproblem.