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Ende der Diskussion — Gabriel über Sarrazin in der ZEIT

Montag, 27. September 2010 23:43

Mit Freude stelle ich fest, dass ein Artikel über Sarrazin (und seinen Parteiausschluss) von Sigmar Gabriel in der ZEIT vom 16.9. mittlerweile online verfügbar ist. Bekommt von mir eine ganz dicke Leseempfehlung.

Ich bin richtig begeistert von der klaren Argumentationsführung, die Gabriel (oder ein kluger Praktikant …) da zeigt. Besonders froh bin ich, dass die historische Dimension der Eugenik-Aspekte, die seine Aussagen durchziehen, aufgezeigt wird. Und dass diese Frage als der eigentliche Kern der Auseinandersetzung identifiziert wird. Und auf dieser Ebene wird klar, wie unmöglich seine Aussagen sind, und dass es kaum etwas gibt, was zur SPD weniger passen könnte. Für mich ist das allerdings dennoch kein Beispiel für moralischen Verfall, sondern vielmehr dafür, wie man sich intellektuell „verrennen“ kann, wenn man sich in komplexen sozialen Fragen vom „logischen Dreisatz“ leiten lässt (wie Sarrazin selbst das nennt). Und damit letztlich für eine überrationalisierte Gesellschaft und vor allem Wissenschaft.

Offen bleibt allerdings, was mit der anderen Lesart zu tun ist, die seine Migrantenkritik ins Zentrum stellt, und die es meiner Meinung nach ist, die ihm breiten Zuspruch von Stammtischen und ähnlichen sozialen Institutionen bringt. Wie weit muss man den Ressentiments in der deutschen Bevölkerung entgegenkommen? Wie kann man vermeiden, Migranten in der einen oder anderen Richtung zu passiven Objekten zu machen? Ließe sich mit Migrantenvertreter_innen irgendwie ein Diskurs über gegenseitige Integrationsbedingungen führen? Praktische Fragen, bei denen wie ich bereits kurz ausgeführt habe für mich die Klärung der „wahren“ Ursachen der bestehenden Probleme nicht unbedingt hilfreich sein muss.

Zum Abschluss möchte ich ein besonders krasses Zitat von Sarrazin und die angemessen krasse Erwiderung Gabriels zitieren, auch als Lustmacher zur Lektüre des ganzen Textes. Es geht um die „Fragestellung“ nach dem Zusammenhang von „genetischer Qualität“ und Fortpflanzung:

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Male and Female Brains

Montag, 27. September 2010 1:13

A month-old NYTimes books review talked about a book with the impressive title „Delusions of Gender“ by Cordelia Fine, and tries to make the point that the differences in male and female brain structure and functioning are by no means enough to account for the differences we believe in in everyday life. Which would imply they are culturally shaped, and potentially changeable.

I can’t tell from the review if the book is an addition to the scientific debate — but the debate is much broader than science anyway, with books recurring to biological differences frequent bestsellers in the last years. So a little bit of polemic from the other side won’t hurt, and this polemic is pretty good.

The criticism about the leap of faith from atomic (and in itself disputable) scientific evidence on neurological differences between sexes to different behavior and abilities makes sense:

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Sarrazin konstruktivistisch gewendet

Dienstag, 7. September 2010 22:54

Nachdem ich heute in der ersten Prüfung des letzten Diplomblocks schon viel über eine systemisch-konstruktivistische Bewertung von ADHS-Diagnosen reden durfte, juckt es, auf eine schon ältere, aber immer noch heiße Debatte der jüngeren deutschen Vergangenheit aus der gleichen Perspektive zu schauen. Das heißt: weniger darüber nachzudenken, wie „wahr“ seine Aussagen sind und den Fokus stärker darauf zu richten, welche pragmatischen Implikationen sie haben, und dabei insbesondere, ob sie den „Möglichkeitsraum“ eher erweitern oder verengen.

Und da komme ich klar zu dem Schluss, dass das, was er sagt, besser nicht gesagt würde. Was passiert, wenn in einem Atemzug der genetische Einfluss auf Intelligenz, weniger intelligente „Migrantenkinder“, höherer „Fortpflanzungsraten“ von Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status (und Migranten) und dessen Beeinflussung durch die Intelligenz propagiert werden? Es werden zunächst Unterschiede betont und anschließend negativ konnotiert, es wird Angst geschürt, und es wird durch die genetische Festlegung des Ganzen Hilflosigkeit erzeugt. Ich denke, es ist unschwer zu erkennen, dass eine andere Art, die Komplexität unserer sozialen Welt zu reduzieren und greifbar zu machen zu mehr Handlungsspielraum führt.

Bei aller Kritik muss man dem Herrn allerdings lassen, dass er eine aggressive Streitkultur wiederbelebt, die wohl einigen Menschen in der öffentlichen Debatte oft fehlt. Hier zum Abschluss noch ein schönes Beispiel (aus einem Interview mit dem Handelsblatt):

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Linguistic Relativity — different language, different thoughts?

Samstag, 4. September 2010 11:49

A NYTimes book review of „Through the Language Glass“ by Guy Deutscher touches on the interesting topic of how languages shape our thoughts (the book itself might or might not be worth reading, according to the review the anecdotes are more convincing then the theory the author wants to prove with them).

Here is an interesting example of how that could happen:

[…] the Amazonian language Matses, whose arsenal of verb forms obliges you not only to explicitly indicate the kind of evidence — personal experience, inference, conjecture or hearsay — on which every statement you make is based, but also to distinguish recent inferences from older ones and say whether the interval between inference and event was long or short. If you choose the wrong verb form, you are treated as a liar. But the distinctions that must be expressed by verbal inflections in Matses, Deutscher argues, can all be easily understood by English speakers and easily expressed in English by means of circumlocutions.

Now, the information is indeed very fascinating to me, and I also don’t quite follow his conclusion. First, to make the point that languages shape our thoughts, you don’t have to prove that certain things cannot be expressed in some languages — it is enough to show that speakers of different languages habitually use certain concepts more than others. And here you can say that the degree of evidence backing a statement seems to have much more everyday importance to Matses speakers than to us. Second, if you assume there is something that cannot be expressed in English — how do you think you could talk (and think) about that in an English book, review, or even mind? Almost by definition, this part of reality would get lost in translation…

Which brings us to another example: colors.

Although the strange sequence in which color terms appear in the world’s languages over time — first black and white, then red, then either green or yellow, with blue appearing only after the first five are in place — still has no full explanation, Deutscher’s suggestion that the development of dyes and other forms of artificial coloring may be involved is as convincing as any other, making color terms the likeliest candidate for a culture-induced linguistic phenomenon.

Other explanations are also possible, of course, and have been made, like here by the British statesman and Greek scholar William Gladstone, who

noting among other things the surprising absence of any term for “blue” in classical Greek texts, theorized that full-color vision had not yet developed in humans when those texts were composed?

Along with psychological experiments, this backs up one of the basic constructivist claims (as put forth, for instance, by Maturana and Varela), that there is hardly any connection between physical spectra of light and the colors we see.

I think if you don’t view languages as static objects, but as systems of thought and expression that keep evolving, and provide an enormous space for creativity and new thoughts, you won’t be too interested in what can and cannot be said (and consequently thought). And from my experience, there are many areas where different languages focus on different aspects of life, and make you more inclined to view reality in a different way. Like, for instance, I’m amazed by how the elaborate linguistic system that has evolved around „dating“ in English in my opinion makes you more likely to view the whole thing as some sort of game, with certain rules, and more importantly, with certain conflicting goals for the participants. And I would argue that while the relative lack of established expressions for this in German makes it harder to communicate with outsiders about what is going on, it leaves more freedom to the individuals involved.

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Placebos wirken besser, wenn man dreiviertel dran glaubt

Montag, 16. August 2010 0:18

In einem interessanten Gespräch mit meiner Schwester über die Frage, ob Ärzten erlaubt werden sollte, Placebos zu verschreiben, habe ich mich an einen Artikel aus dem Wissen-Teil der Süddeutschen erinnert. Es wird von einer Studie berichtet (im Original übrigens hier in den Archives of General Psychiatry), in der Parkinson-Patienten mit vorgeblich unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit ein aktives Medikament oder ein Placebo gegeben wurde. (Ich finde es nebenbei ziemlich erstaunlich, dass die zuständige Ethikkommission das durchgewunken hat — alle Patienten haben das Placebo erhalten, von informierter Zustimmung kann keine Rede sein).

Das erstaunliche Ergebnis ist jedenfalls, dass Patienten, die glaubten, mit 75% Wahrscheinlichkeit das aktive Medikament zu erhalten, sich deutlich (und auch was die bei Parkinson recht gut bekannten neurochemischen Veränderungen angeht) von den anderen Gruppen abhoben, insbesondere auch von der Gruppe, die davon ausgingen, dass sie mit Sicherheit das aktive Medikament erhalten würden.

Bezüglich des Verschreibens von Placebos wäre das ein klares Argument dafür — es würde allen Verschreibungen vom Arzt eine zusätzliche „rein psychische“ Wirkung geben, wenn wir uns nicht mehr ganz sicher wären, dass das Medikament „echt“ ist!

Dennoch bin ich insgesamt eher gegen eine derartige Psychologisierung des Allgemeinarztes. Ich finde, es entspricht nicht einem modernen Verständnis von psychologischen Interventionen, wenn derart mit Täuschung gearbeitet wird. Im Gegensatz dazu ziehe ich aus meiner Prüfungslektüre zu systemischer Therapie und Beratung die Vermutung, dass sich ein ähnlicher Effekt auch mit einer sehr kurzen Psychotherapie erreichen ließe. Ich denke, dass ein großer Teil dieses Placeboeffekts bei ungewisser, aber hoffnungsvoller Erwartung durch eine veränderte Aufmerksamkeit zustande kommt, die sich mehr auf die Beobachtung dessen richtet, was sich vielleicht verbessert oder verändert hat. Und das gehört zum Standardinventar systemischer Techniken, mit denen Probleme „verflüssigt“ werden. Übrigens gibt es in dieser Therapierichtung auch schon viel Erfahrung gerade mit chronischen Krankheiten mit starker biologischer Mitverursachung (z.B. Asthma oder Diabetes bei Kindern).

Und im Gegensatz zur wunderheilerartigen Placebointervention wird dabei gleichzeitig die Selbstbestimmung und Autonomie der Patienten/Klienten gestärkt, und ihr Vertrauen in ihre eigenen Problemlösefertigkeiten. Und — ich möchte eine potenzielle Einschränkung meiner Neutralität in dieser Frage nicht verschweigen — mir geht nicht so schnell die Arbeit aus…

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Wozu ist unser Gedächtnis da?

Samstag, 7. August 2010 15:45

Im Kontext einer Gerichtsverhandlung mit widersprüchlichen Zeugenaussagen berichtet die Süddeutsche im Wissens-Ressort vom Stand der psychologischen Forschung zum Gedächtnis. Das Fazit ist recht einfach:

Das Gedächtnis ist primär kein Archiv des vergangenen Lebens, sondern ein willfähriges Instrument zur Bewältigung der Gegenwart.

Verschiedene interessante Experimente, die auch im Artikel berichtet werden, zeigen, dass spätere Ereignisse sich mit den früheren Erinnerungen vermischen, genau wie Mediendarstellungen, damalige und heutige Motive, individuelle und kollektive Sinnstrukturen, und vieles andere mehr.

Was das ganze für Gerichtsprozesse bedeutet, wo Zeugenaussagen ja einen zentralen Stellenwert haben, ist eine wichtige und schwierige Frage. Für den Alltag meine ich, dass man es durchaus als Einladung verstehen kann, wie von Konstruktivisten verschiedentlich vorgeschlagen, unsere Alltagserzählungen mit anderen als dem Wahrheitskriterium zu bewerten. Und für die Wissenschaft? Dass wir uns überlegen müssen, ob wir es für möglich und wünschenswert halten, unsere biologischen Wahrnehmungs– und Erinnerungssysteme, die offensichtlich nicht auf eine objektive Abbildung der Wirklichkeit ausgelegt sind, durch technische Systeme zu ersetzen, die das zu leisten versuchen.

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Wieviel sind gute Lehrer wert?

Freitag, 6. August 2010 16:57

Irgendwie ist man sich einig, dass gute Lehrer total wichtig sein müssen, im Sinne eines frühen, positiven Einflusses auf die Entwicklung. Und vermutet mit Alltagsverstand, dass man sich eine Menge späterer Ausgaben für Arbeitslosigkeit, aber vermutlich auch Kriminalität sparen könnte. Und insgesamt die Volkswirtschaft ankurbeln würde, wenn man da mehr investierte.

Die NYTimes berichtet von einer aktuellen Studie, die solche Fragen zu beantworten versucht. Zunächst ist festzuhalten, dass die bisherigen Ergebnisse eher gegen starke Effekte der frühen Schulqualität sprachen:

How much do your kindergarten teacher and classmates affect the rest of your life?

Economists have generally thought that the answer was not much. Great teachers and early childhood programs can have a big short-term effect. But the impact tends to fade. By junior high and high school, children who had excellent early schooling do little better on tests than similar children who did not — which raises the demoralizing question of how much of a difference schools and teachers can make.

Allerdings bezogen sich diese Befunde auf den späteren Schulerfolg — der Erfolg im Beruf wurde nicht erfasst. In einem großen Feldexperiment (die Schüler wurden den Klassen randomisiert zugewiesen) mit 12.000 Schülern in Tennessee, die seit den 80ern untersucht werden, konnte das jetzt erstmals berichtet werden:

Just as in other studies, the Tennessee experiment found that some teachers were able to help students learn vastly more than other teachers. And just as in other studies, the effect largely disappeared by junior high, based on test scores. Yet when Mr. Chetty and his colleagues took another look at the students in adulthood, they discovered that the legacy of kindergarten had re-emerged.

Students who had learned much more in kindergarten were more likely to go to college than students with otherwise similar backgrounds. Students who learned more were also less likely to become single parents. As adults, they were more likely to be saving for retirement. Perhaps most striking, they were earning more.

Diese Effekte zu quantifizieren ist der einfachere Teil der Studie:

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Tiefe Denker, ganz unmelancholisch

Samstag, 20. März 2010 21:51

Ein NYTimes „Well“ Artikel berichtet von einer spannenden kleinen Studie zum Thema Gesprächstiefe und Glück. Mehr als die noch sehr spekulativen Ergebnisse gefällt mir die Untersuchungsmethode:

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Neurowissenschaft und Erziehung

Freitag, 25. Dezember 2009 2:21

Die NYTimes berichtet von einer Annäherung von Neurowissenschaften und Pädagogik, mit großen Schritten in der Grundlagenforschung und ersten Erfolgen in der Praxis. Klingt auf der einen Seite spannend und nach beträchtlichem humanistischem Potential. Andererseits scheint es zuerst dazu verwendet zu werden, den kleinen schon vor dem Kindergarten Mathe beizubringen. Ist sicher nicht falsch, besonders wenn damit Kindern mit problematischem familiärem Hintergrund geholfen wird. Aber bleibt hoffentlich nicht die einzige Richtung, in die geforscht wird.

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Ehe als Projekt

Montag, 14. Dezember 2009 20:47

Ein interessanter NYTimes-Magazin-Artikel berichtet über die Erfahrung mit dem Versuch, eine Ehe als Projekt zu verstehen, mit demselben Anspruch, den wir an alle anderen Projekte und Tätigkeiten unseres westlichen Lebens stellen: immer besser zu werden.

Man erfährt beim Lesen einiges über verschiedene Schulen der mehr oder weniger psychologisch-wissenschaftlich fundierten Paarberatung. Und vielleicht auch ein bisschen darüber, wie gesund ein solcher Anspruch an das Leben im Allgemeinen und die Beziehung im Besonderen ist.

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