Sozialer Konstruktionismus in einer kapitalistischen Gesellschaft

In einem spannenden Gespräch gestern Abend kam die Frage auf, ob konstruktivistische und konstruktionistische Erkenntnisphilosophien zur Aufrechterhaltung bestehender Ungleichheiten in Bezug auf materielle Ressourcen und Macht beitragen. Die Kritik ist naheliegend: Insofern als sie Zustände in der Welt „psychologisieren“ (es gibt keine „objektive“ Welt, es ist alles „in Deinem Kopf“) laufen sie Gefahr, den Ansatzpunkt zu verlieren, von dem aus sich gesellschaftliche Verhältnisse kritisieren ließen.

In dieser Falle sehe ich z.B. die an sich gute Idee einer „Positiven Psychologie“ gefangen, und nehme eine solche Individualisierung von gesellschaftlichen Problemen auch im Alltag oft war. Umso schöner, dass der soziale Konstruktionismus dafür (mit Wurzeln in Foucault) gute Antworten hat. Hier aus einem Artikel in einem Journal der Sozialen Arbeit:

While the social constructionist recognizes that there are multiple views of reality, all constructions are not equal. One of the reasons they are not equal has to do with power, a dynamic generally neglected in social work practice (Hasenfeld, 1987).

Und in der Sozialen Arbeit gibt es auch praktische Ansätze zu diesem Problem:

Consciousness-raising is not an effort to deny the experience of oppressed people. To the contrary, it speaks to the development of a more empowering narrative. It helps clients expand their narratives (the stories they tell themselves) to include an understanding of their personal experiences in terms of the political experience of all those in their ascribed category. This expanded awareness is a „critical“ consciousness, one which submits their experience to analysis, one which involves collaborating with others to work against the vested interests of more powerful groups. It is not a „naive“ consciousness, one which locates the blame in individual inadequacy, nor a „magical“ one that accepts what is as fate or God’s will (Friere, 1974).

Der Schlüssel liegt also darin, die Konstruktionen eben nicht in den einzelnen Köpfen zu verorten, sondern als soziales Phänomen zu verstehen, und das Augenmerk darauf zu richten, wer die Macht hat, die sozialen „Wahrheiten“ zu bestimmen.

Zum Abschuss noch ein Zitat, das die Problematik von Konstruktion und Macht schön auf den Punkt bringt:

The problem isn’t Mr. Charlie; it’s what Mr. Charlie has done to your mind. — Jones, R. (1971). Proving blacks inferior. Black World, 4–19.

Autor:
Datum: Samstag, 13. November 2010 12:15
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Deutsch

Feed zum Beitrag: RSS 2.0 Kommentare und Pings geschlossen.

Keine weiteren Kommentare möglich.