Ende der Diskussion — Gabriel über Sarrazin in der ZEIT

Mit Freude stelle ich fest, dass ein Artikel über Sarrazin (und seinen Parteiausschluss) von Sigmar Gabriel in der ZEIT vom 16.9. mittlerweile online verfügbar ist. Bekommt von mir eine ganz dicke Leseempfehlung.

Ich bin richtig begeistert von der klaren Argumentationsführung, die Gabriel (oder ein kluger Praktikant …) da zeigt. Besonders froh bin ich, dass die historische Dimension der Eugenik-Aspekte, die seine Aussagen durchziehen, aufgezeigt wird. Und dass diese Frage als der eigentliche Kern der Auseinandersetzung identifiziert wird. Und auf dieser Ebene wird klar, wie unmöglich seine Aussagen sind, und dass es kaum etwas gibt, was zur SPD weniger passen könnte. Für mich ist das allerdings dennoch kein Beispiel für moralischen Verfall, sondern vielmehr dafür, wie man sich intellektuell „verrennen“ kann, wenn man sich in komplexen sozialen Fragen vom „logischen Dreisatz“ leiten lässt (wie Sarrazin selbst das nennt). Und damit letztlich für eine überrationalisierte Gesellschaft und vor allem Wissenschaft.

Offen bleibt allerdings, was mit der anderen Lesart zu tun ist, die seine Migrantenkritik ins Zentrum stellt, und die es meiner Meinung nach ist, die ihm breiten Zuspruch von Stammtischen und ähnlichen sozialen Institutionen bringt. Wie weit muss man den Ressentiments in der deutschen Bevölkerung entgegenkommen? Wie kann man vermeiden, Migranten in der einen oder anderen Richtung zu passiven Objekten zu machen? Ließe sich mit Migrantenvertreter_innen irgendwie ein Diskurs über gegenseitige Integrationsbedingungen führen? Praktische Fragen, bei denen wie ich bereits kurz ausgeführt habe für mich die Klärung der „wahren“ Ursachen der bestehenden Probleme nicht unbedingt hilfreich sein muss.

Zum Abschluss möchte ich ein besonders krasses Zitat von Sarrazin und die angemessen krasse Erwiderung Gabriels zitieren, auch als Lustmacher zur Lektüre des ganzen Textes. Es geht um die „Fragestellung“ nach dem Zusammenhang von „genetischer Qualität“ und Fortpflanzung:

Es gibt also reale Erfahrungen mit den Allmachtsfantasien einer Politik, die meint, die besseren Menschen schaffen zu können. Thilo Sarrazin ist gewiss kein Rassist, aber obwohl er freimütig die Urheber dieser Bevölkerungstheorien zitiert und für sich in Anspruch nimmt, ist ihm diese historische Einordnung keine Zeile wert. Stattdessen formuliert er: »In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es immer mehr Angriffe auf die Fragestellung. Diese Attacken waren letztlich Ausdruck von Wertungen, die gewisse Fragen als unzulässig verwarfen. Aber sie waren nicht empirisch begründet.« (S. 353) Wie weit muss man sich intellektuell verirren, um die Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollständig auszublenden, obwohl sie natürlich der grauenhafteste »empirische Befund« waren, den man für die Unzulässigkeit derartiger »Fragestellungen« finden kann. Das Grundgesetz ist ja – den Nürnberger Ärzteprozess noch vor Augen – gerade gegen diese Verbindung der sozialen mit der genetischen Frage geschrieben worden.

Übrigens sammeln sich auf der Seite der ZEIT im Moment 148 Seiten (!) mit Kommentaren, großteils positiv bezüglich Gabriels Argumentation. Beruhigend. Auch wenn es eine Menge zensierter Kommentare gibt, deren Inhalt man nur erahnen kann.

Autor:
Datum: Montag, 27. September 2010 23:43
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Ein Kommentar

  1. 1

    […] Allerdings liest sich dieses immer noch sehr gut als Nachwort und Legitimation von Sigmar Gabriels Stellungnahme, die ich schon vor einer Weile hier lobend erwähnt habe. […]