Sarrazin konstruktivistisch gewendet

Nachdem ich heute in der ersten Prüfung des letzten Diplomblocks schon viel über eine systemisch-konstruktivistische Bewertung von ADHS-Diagnosen reden durfte, juckt es, auf eine schon ältere, aber immer noch heiße Debatte der jüngeren deutschen Vergangenheit aus der gleichen Perspektive zu schauen. Das heißt: weniger darüber nachzudenken, wie „wahr“ seine Aussagen sind und den Fokus stärker darauf zu richten, welche pragmatischen Implikationen sie haben, und dabei insbesondere, ob sie den „Möglichkeitsraum“ eher erweitern oder verengen.

Und da komme ich klar zu dem Schluss, dass das, was er sagt, besser nicht gesagt würde. Was passiert, wenn in einem Atemzug der genetische Einfluss auf Intelligenz, weniger intelligente „Migrantenkinder“, höherer „Fortpflanzungsraten“ von Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status (und Migranten) und dessen Beeinflussung durch die Intelligenz propagiert werden? Es werden zunächst Unterschiede betont und anschließend negativ konnotiert, es wird Angst geschürt, und es wird durch die genetische Festlegung des Ganzen Hilflosigkeit erzeugt. Ich denke, es ist unschwer zu erkennen, dass eine andere Art, die Komplexität unserer sozialen Welt zu reduzieren und greifbar zu machen zu mehr Handlungsspielraum führt.

Bei aller Kritik muss man dem Herrn allerdings lassen, dass er eine aggressive Streitkultur wiederbelebt, die wohl einigen Menschen in der öffentlichen Debatte oft fehlt. Hier zum Abschluss noch ein schönes Beispiel (aus einem Interview mit dem Handelsblatt):

Frage: Ein Beispiel: Mein Vater ist Gärtner, ich bin Akademiker. Ich denke aber, der Unterschied zwischen meinem Vater und mir liegt nicht darin, dass ich intelligenter bin als er, sondern dass ich durch die Bildungsreform der siebziger Jahre mehr Möglichkeiten hatte.

Sarrazin: Das glaube ich Ihnen ja. Nur ist das so, als wenn ich sage: Im Januar ist es kälter als im August, und Sie daraufhin sagen: Nein, ich kenne einen Tag im Januar 1983, da waren es bei mir auf der Terrasse 15 Grad, und im letzten Jahr war es im August sehr kühl.

Allerdings schade, dass er dann wenn es an die wichtigen Fragen geht doch auch sehr laviert:

Frage: Ist die Unterschicht dümmer als die Mittel– und Oberschicht?

Sarrazin: Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent erblich. Zwischen Intelligenz, sozioökonomischem Hintergrund und Bildungsgrad besteht ein positiver statistischer Zusammenhang, der sich auch kausal erklären lässt.

In anderen Worten: Ja?!

Und hier noch ein extrem spannendes (man verzeihe meinen Superlativ, es ist aber wirklich so!) Beispiel dafür, wie man das „Gleiche“ unterschiedlich sagen kann, und es ganz unterschiedliche Gefühle und Handlungsimpulse zurücklässt. Sarrazin sagt im bereits zitierten Interview:

Sarrazin: In meinem Buch zitiere ich die renommierte Bildungsforscherin Elsbeth Stern. Sie sagt, »dass die optimale Förderung eines jeden Schülers nicht zu mehr Gleichheit, sondern zu mehr Ungleichheit führt. Denn je größer die Chancengerechtigkeit, desto mehr schlagen die Gene durch. Eine gute Schule, das mag nicht jedem gefallen, produziert Leistungsunterschiede auf hohem Niveau.«

Sie selbst erläutert dieses Phänomen nochmal in der Zeit:

Hier kommen wir zu einem scheinbar paradoxen Schluss, der das »mindestens« erklärt: Dass nicht sogar 100 Prozent der Intelligenzunterschiede auf genetische Variation zurückzuführen sind, liegt im Wesentlichen an der ungleichen Verteilung von Bildungschancen in allen Ländern der Welt – wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. In einer Gesellschaft, in der alle Kinder von Anfang an die für ihre geistige Entwicklung optimale familiäre und schulische Unterstützung vorfänden, könnte jedes die in seinen Genen vorgesehene Intelligenz erreichen. Die Anzahl richtiger Antworten im IQ-Test würde bei allen ansteigen, die Unterschiede aber würden bestehen bleiben oder sogar noch zunehmen, weil einige Gene erst unter optimalen Bedingungen wirksam würden.

Weil wir aber von einer solchen Bildungsgerechtigkeit weit entfernt sind, gilt: Erreicht ein deutschstämmiger rundum geförderter Akademikersohn, »nur« einen durchschnittlichen IQ, ist davon auszugehen, dass seine Gene einfach nicht mehr hergeben. Wird hingegen bei einer türkischstämmigen Tochter aus bildungsfernem Hause derselbe Wert gemessen, ist anzunehmen, dass sie ihr genetisches Potenzial nicht optimal in Intelligenz umsetzen konnte. Unter besseren Bedingungen hätte sie wohl einen höheren IQ erzielt. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund ist also mehr verborgenes Intelligenzpotenzial zu finden als bei den deutschstämmigen Kindern.

Man liest ein wenig verwirrt zwischen den beiden Aussagen hin und her. Da wird inhaltlich schon irgendwie das selbe gesagt. Aber es bedeutet etwas völlig Anderes!

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Datum: Dienstag, 7. September 2010 22:54
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2 Kommentare

  1. 1

    Ja, genau darum geht es meiner Ansicht nach. Es ist nicht allein eine streitbare inhaltliche Diskussion.
    Vielmehr werden über dieses Medium Weltanschauungen transportiert. Sarrazin benützt das Wort „dumm“ um eine geringere Wertschätzung auszudrücken! Den gleichen Sachverhalt könnte man auch anders bewerten und diesen Schülern umso mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

  2. 2

    […] zu Wort, der wohl von Sarrazin verwendet wurde, um seine Aussagen zu stützen. (Ich hatte bereits kurz darüber geschrieben als die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern in der ZEIT widersprochen […]