Glasgow — Abschluss

Ich habe gerade meinen Praktikumsbericht für die Böll-Stiftung geschrieben. Und weil ich es so schade finde, dass solche geistigen Ergüsse immer in Schubladen verschwinden, veröffentliche ich ihn hier. Der geneigte Lese möge mir den etwas förmlichen Stil verzeihen …

Vom 13. Juli 2009 bis 4. September 2009 habe ich ein achtwöchiges „klinisch“-psychologisches Praktikum in der Beratungsstelle „Sandyford Counseling And Support Services“ in Glasgow geleistet. Es handelt sich um eine Beratungsstelle in öffentlicher Trägerschaft (NHS), die kostenlos Beratung im Themenfeld Sexualität und Partnerschaft sowie bei Essstörungen anbietet.

Schon die Suche nach einem klinischen Praktikum im angelsächsischen Raum erwies sich als beachtliche Hürde und interessante Lernerfahrung. Durch die dort sehr anders aufgebaute Ausbildung zum Therapeuten und vor allem psychologischen Berater war es für potentielle Praktikumsstellen schwierig, mich einzuordnen. Darüber hinaus werden die meisten Praktika über Kooperationen zwischen den praktischen Institutionen und den Ausbildungseinrichtungen vermittelt, so dass in der Regel Praktika von außen unmöglich sind. Jedenfalls kam ich aus dieser Vorbereitungsphase mit viel Routine in englischsprachiger e-mail-Kommunikation und Telefongeprächen, und genau einer Zusage. Ein wenig frustrierend war, dass sich daran noch eine lange Wartezeit auf die „disclosure“ anschloss, eine Art polizeiliches Führungszeugnis und behördliche Bedingung für die Arbeit mit schutzbedürftigen Menschen. Selbst nachdem diese eigentlich fertig war, steckte sie noch einige Zeit in der umständlichen Behördenkommunikation fest, und mein Praktikumsbeginn verzögerte sich um mehrere Wochen.

Ich stellte allerdings bald fest, dass sich die Wartezeit gelohnt hatte. Die Beratungsstelle erwies sich als idealer Ort an diesem Punkt meiner beruflichen und persönlichen Entwicklung. Ich war zunächst fast überrumpelt davon, wie eigenständig und eigenverantwortlich ich arbeiten durfte. Vom ersten Tag an führte ich selbst die Erstgespräche, in der die Klienten auf Eignung für diese Form von Beratung und Übereinstimmung mit den Aufnahmekriterien untersucht werden. Darüber hinaus wird eine Indikation für eine bestimmte Form von Beratung oder Psychotherapie erarbeitet. Letzteres machte für mich einen entscheidenden Teil der Lernerfahrung aus. Als klinisch ausgerichteter Psychologiestudent stellt sich einem gegen Ende des Studiums die „Schulenfrage“: welche der verschiedenen Therapieverfahren überzeugt einen persönlich am meisten? Welche der teilweise langwierigen und teuren Ausbildungswege kommen überhaupt in Frage? Und ist man eventuell bereit, für seine Überzeugung auf ein relativ sicheres Einkommen zu verzichten und eine Therapieform zu wählen, die von den Krankenkassen (noch) nicht erstattet wird? Die Situation wird noch erschwert dadurch, dass die meisten Hochschulen sehr einseitig von einer Schule (der kognitiven Verhaltenstherapie) dominiert sind, und man über die anderen Möglichkeiten nur wenig erfährt. Hier kam es mir sehr zu Gute, in meinem Praktikum einer Fülle von Beratern mit unterschiedlichsten Hintergründen zu begegnen. Insgesamt scheint das Gesundheitssystem in Großbritannien hier sehr viel offener zu sein als das Deutsche. So konnte ich in persönlichen Gespräche mein Wissen auch über exotischere Therapieformen ausweiten, und mir dann bei jedem Klienten die Frage stellen: wie lässt sich diesem Menschen am besten helfen? Meine Einschätzungen konnte ich dann in Fallbesprechungen mit der Leiterin der Beratungsstelle überprüfen und verfeinern. Insgesamt hat dieser Prozess für mich gerade zunächst Horizonte geöffnet und bisher gehegte Urteile in Frage gestellt. Ich könnte jetzt auf die Frage, welche Therapieform ich selbst (als erstes) erlernen möchte, nur schwerer antworten als vor dem Praktikum. Ich bin aber sicher, dass die Erfahrungen mir langfristig zu einer fundierteren Entscheidung verhelfen.

Über die spannenden Unterschiede zwischen verschiedenen therapeutischen Ansätzen hinaus war es aber auch spannend, die Gemeinsamkeiten in der praktischen Arbeit zu beobachten. Ob es sich dabei um wirklich universelle Überlappungen zwischen den therapeutischen Schulen handelt, oder eher nur um eine gemeinsame Philosophie der Berater dort kann ich schwer beurteilen. Es war jedenfalls zu beobachten, dass sie alle eine relativ „humanistische“ Einstellung hatten, die zu einer sehr respektvollen Beziehungsgestaltung mit Klienten führt. In dieser Haltung habe auch ich mich sehr wohl gefühlt.

Ich bekam auch eine sehr schöne Gelegenheit, die machtvolle Wirkung, die diese Art der Begegnung alleine schon hat, zu erleben. Neben den Eingangsgesprächen konnte ich nämlich auch eine Reihe von „Kurzberatungen“ durchführen, die als niedrigschwellige Intervention auch unabhängig von den ansonsten gültigen Kriterien jedem zugestanden werden. Auch hierbei wurden manche meiner bisherigen Überzeugungen umgekrempelt, etwa was die nötige Behandlungsdauer für verschiedene Störungen angeht. Ich konnte erleben, wie Menschen mit relativ schweren Störungen schon nach einem oder zwei Terminen in einen Veränderungsprozess eintreten, der ihre Probleme schnell verbessert. Aber auch umgekehrt relativ „einfache“ Probleme, die sich einfach nicht bewegen wollen. Mir wurde die Bedeutung des sozialen Umfeldes und der Beziehungen der Klienten voll bewusst. Und ich entdeckte, dass es eines der einfachsten und wirksamsten Dinge in einer kurzen Beratung ist, die Klienten wieder in die Lage zu versetzen, sich diesem Umfeld zuzuwenden und von ihrer vorhandenen Unterstützung gebrauch zu machen. Dies umso mehr, als fast allen Menschen mit psychischen Störungen ein Gefühl von Andersheit, Fremdheit und Ausgrenzung gemeinsam ist, das sie sehr zögern lässt, sich jemandem anzuvertrauen. Hier hat man als Berater besonders im Erstkontakt eine große Verantwortung inne, spricht gewissermaßen repräsentativ für die Gesellschaft als Ganzes – mit der Botschaft „Wir verstehen Dich, Du bist ok“ oder „Etwas ist falsch mit Dir“. Besonders beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang auch die sogenannte „paradoxe Theorie der Veränderung“ aus der Gestalttherapie: Sie postuliert, dass die Akzeptanz dessen, wie man gerade ist, erst den Weg für eine positive Entwicklung frei macht, und beschreibt sehr treffend die Erfahrungen aus meiner Arbeit.

Die Beratungsstelle war auch ein guter Ort, um einen klaren Blick auf die gesellschaftspolitische Dimension der psychologischen Tätigkeit zu bekommen. Gesellschaftliche und politische Bedingungen prägen das Auftreten und die Bewältigungsversuche von psychischen Störungen und das Arbeitsumfeld von Psychologen, und umgekehrt wirkt psychologische Arbeit auf die gesellschaftlichen und teilweise juristischen und politischen Systeme zurück. Besonders deutlich wird das an zwei Schwerpunktgruppen der Arbeit in Sandyford: Menschen mit Missbrauchserlebnissen und Vergewaltigungsopfer. In beiden Fällen ist die gesellschaftliche Anerkennung und auch der juristische Umgang sehr wichtig für die Opfer, und ist mindestens letzteres immer noch problematisch. Eine erschreckend geringe Anzahl von Vergewaltigungen und Missbrauchsfällen führt zu einer Verurteilung, und die Gerichtsverfahren verlangen die öffentliche Enthüllung von quälenden Details von den Opfern. Darüber hinaus scheint in Schottland auch eine gesellschaftliche Haltung, die Opfer von Vergewaltigungen stigmatisiert und durch Kleidung oder Verhalten für mitschuldig erklärt, noch weit verbreitet.

In diesem Zusammenhang bin ich froh, einem Vortragsabend der „White Ribbon Campaign“ beigewohnt zu haben, der sich mit dem gesellschaftlichen Kontext von Gewalt gegen Frauen beschäftigte, und insbesondere auf Wege einging, wie Männer hier zu positiven Veränderungen beitragen können. Das war sehr wichtig für mich, weil sich im Arbeitsumfeld durchaus manchmal das Gefühl einschlich, es sei grundsätzlich etwas falsch mit dem Mann-Sein – so viele Frauen, die Opfer männlicher Aggression und Sexualität wurden. Das ist für mich einer der Punkte, wo es für mich als männlicher Psychologe wichtig ist, auf die Geschlechterstereotypen und Vorstellung vom „richtigen“ Umgang von Männern und Frauen Einfluss zu nehmen. Nicht nur, um Frauen zu schützen, sondern auch um Männern zu einer positiven und konstruktiven Geschlechtsidentität zu helfen – ein Bereich, der mir den positiven Entwicklungen in der Emanzipation von Frauen hinterherzuhinken scheint.

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Datum: Samstag, 26. September 2009 16:07
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