Der „mexican fisherman“ oder: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral

Pünktlich zum Tag der Arbeit entdecke ich in alten Psycho-Verteiler-E-Mails (vielen Dank an Carsten) eine nette kleine Geschichte über die Begegnung zwischen zwei Entwürfen des Wegs zu Lebensglück, in der Gestalt eines amerikanischen Geschäftsmanns und eines mexikanischen Fischers. Zum Glück habe ich mir die Mühe gemacht, den Ursprung dieser Geschichte zu recherchieren, denn es stellt sich heraus dass sie eine Variation einer Kurzgeschichte von Heinrich Böll ist. Diese hat er als „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ für den NDR geschrieben, für eine Sendung am 1. Mai 1963.

Was im Kontext des Wirtschaftswunders vermutlich ein wenig verrückt klang, dürfte heute auf fruchtbareren Boden fallen. Ich füge nach der deutschen auch die englische Fassung ein, für internationale Freunde und weil ich die Adaption so lustig finde.

In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick. Und da aller guten Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal: klick.

Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach einer Zigarettenschachtel angelt; aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum messbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist — der Landessprache mächtig — durch ein Gespräch zu überbrücken versucht.

Sie werden heute einen guten Fang machen.„
Kopfschütteln des Fischers.

Aber man hat mir gesagt, daß das Wetter günstig ist.„
Kopfnicken des Fischers.

Sie werden also nicht ausfahren?„
Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiß liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpaßte Gelegenheit.

Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?„
Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über. „Ich fühle mich großartig“, sagt er. „Ich habe mich nie besser gefühlt.“ Er steht auf, reckt sich, als wolle er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich phantastisch.“

Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: „Aber warum fahren Sie dann nicht aus?„
Die Antwort kommt prompt und knapp. „Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin.“

War der Fang gut?„
„Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen…“ Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die Schultern. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis.
„Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug“, sagt er, um des Fremden Seele zu erleichtern. „Rauchen Sie eine von meinen?„
„Ja, danke.“

Zigaretten werden in die Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.

Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen“, sagt er, „aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen — stellen Sie sich das mal vor.„
Der Fischer nickt.

Sie würden“, fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren — wissen Sie, was geschehen würde?„
Der Fischer schüttelt den Kopf.

Sie würden sich spätestens in einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten und dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen — eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden…“, die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren — und dann…“, wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache.

Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. „Und dann“, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache.
Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat.
„Was dann?“ fragt er leise.

Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen — und auf das herrliche Meer blicken.„
„Aber das tu‘ ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“

Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

Heinrich Böll, 1963

Böll, Heinrich, Werke: Band Romane und Erzählungen 4. 1961–1970. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, S. 267–269 (kopiert vom AStA der Uni Flensburg)

Hier die englische Fassung, von der selben Quelle die mich auch auf die Spur zu Heinrich Böll brachte:

An American businessman was standing at the pier of a small coastal Mexican village when a small boat with just one fisherman docked. Inside the small boat were several large yellowfin tuna. The American complimented the Mexican on the quality of his fish.

“How long it took you to catch them?” The American asked.

“Only a little while.” The Mexican replied.

“Why don’t you stay out longer and catch more fish?” The American then asked.

“I have enough to support my family’s immediate needs.” The Mexican said.

“But,” The American then asked, “What do you do with the rest of your time?”

The Mexican fisherman said, “I sleep late, fish a little, play with my children, take a siesta with my wife, Maria, stroll into the village each evening where I sip wine and play guitar with my amigos, I have a full and busy life, senor.”

The American scoffed, “I am a Harvard MBA and could help you. You should spend more time fishing and with the proceeds you buy a bigger boat, and with the proceeds from the bigger boat you could buy several boats, eventually you would have a fleet of fishing boats.”

“Instead of selling your catch to a middleman you would sell directly to the consumers, eventually opening your own can factory. You would control the product, processing and distribution. You would need to leave this small coastal fishing village and move to Mexico City, then LA and eventually NYC where you will run your expanding enterprise.”

The Mexican fisherman asked, “But senor, how long will this all take?”

To which the American replied, “15–20 years.”

“But what then, senor?”

The American laughed and said, “That’s the best part. When the time is right you would announce an IPO (Initial Public Offering) and sell your company stock to the public and become very rich, you would make millions.”

“Millions, senor? Then what?”

The American said slowly, “Then you would retire. Move to a small coastal fishing village where you would sleep late, fish a little, play with your kids, take a siesta with your wife, stroll to the village in the evenings where you could sip wine and play your guitar with your amigos…”

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Datum: Freitag, 1. Mai 2009 0:01
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